Das Zimmer, in dem ich nächtige, ist gut; der Schlaf leider von überschaubarem Erholungswert. Bereits beim Aufstehen merke ich, dass ich mehr als nur „schlecht geschlafen“ habe, sondern vielmehr zutiefst müde und erschöpft bin.
Gegen halb 8 spaziere ich an der Kirche vorbei dem Ortsausgang von Hontanas entgegen.

Ich habe heute wenig Aufmerksamkeit für den Weg und die Landschaft, die vom Regen nass und in toller morgendlicher Lichtstimmung vor mir liegt. Wie gegen eine unsichtbare Mauer stoße ich plötzlich auf die große Sinnfrage und werde von bedrängendem Zweifel erschlagen. Die Fragen, die in mir hochkochen, schreie ich förmlich in den Himmel hinein: „Was mache ich hier? Warum muss ich mich hier in der spanischen Felderwüste so sinnlos verausgaben?“
Nachdem ich mich beruhigt habe, nehme ich eine leise innere Stimme wahr:
„Du musst überhaupt nichts!“, höre ich in ganz ruhigem Ton. „Du kannst jederzeit ein Taxi rufen oder mit dem Bus zum Flughafen fahren und schon heute Abend sitzt du daheim. Hier zu sein ist deine eigene Entscheidung. Mach mich ja nicht dafür verantwortlich.“
Es stimmt, denke ich mir - und doch wollte ich es nicht hören. Warum eigentlich? Ich bin entsetzt davon, wie groß meine Zweifel, ja eher sogar mein Widerwillen geworden sind. Mit dieser Einstellung werde ich Santiago nicht erreichen; die zahlreichen übrigen Kilometer sind mit so einem Unmut nicht zu bezwingen.

Ich nehme im Vorbeigehen Notiz vom Kloster San Anton, das verfallen und verlassen da liegt. Mitten durch das frühere Pilgerhospital führt die stille Landstraße.

Ich bin von meinen Gedanken aufgewühlt und verstört, war ich doch bisher immer Feuer und Flamme für diese lange Reise?
‚At some point, this pilgrimage moves everyone to tears‘, hat ein amerikanischer Pilger einmal zu mir gesagt. Mir ist zu dem Zeitpunkt bereits klar gewesen, dass es harte Abschnitte gibt und geben wird: sowohl physisch als auch mental.
Ein kurzer Blick auf die Uhr: Es ist gerade erst 9 geworden, aber ich fühle mich emotional bereits so erschöpft, dass ich mich wieder niederlegen könnte. ‚Was soll da noch kommen?‘, denke ich mir und sollte trotzdem noch gewaltig überrascht werden.

Ich gelange nach Castrojeriz und besuche die Kirche. Gegen die Spende von 1 Euro ist die Kirche samt kleiner Ausstellung zu besichtigen. Der kurze Rundgang bringt mich auf andere Gedanken. Eigenwillig ist die Aufteilung in dem Gotteshaus: Mittig befindet sich das Chorgestühl und nach vorne sowie zur Seite erstrecken sich zwei gleichwertig ausgebaute Hauptschiffe samt Altären. Im Winter muss es bitter kalt sein, zumindest zeugen die ‚Heizschwammerl‘ davon.


Die Ortschaft schmiegt sich langgezogen um einen Hügel herum und die gelben Pfeile weisen die Pilger der schmalen Hauptstraße entlang. Neben einer weiteren Kirche hat man versucht, die alten Wege auch barrierefrei zugänglich zu machen. Keine einfache Aufgabe…

Hinter der Ortschaft steigt der Weg steil zur Anhöhe „Alto de Mostelares“ an. Obwohl ich mich zunächst gut fühle, bin ich schon kurz danach überanstrengt. Ich verlangsame mein Tempo und schleppe mich die restlichen Höhenmeter hinauf.

Oben angekommen suche ich mir einen abgelegenen Platz mit Blick auf die weithin sichtbare Strecke durch die Ebene und sacke zu Boden. Ich zittere ein wenig, mir ist übel und schwindelig. Mit meinem beruflichen Wissen hätte es mir ein Leichtes sein müssen, einzuordnen, dass die Symptome wohl eine angehende Unterzuckerung, zumindest aber einen Energiemangel aufgezeigt haben. Alleine und im Stress fällt die Selbsthilfe aber gar nicht so leicht.
Mit ein paar Tagen Abstand verarbeite ich die unangenehme Situation nun und frage mich ernsthaft, was ich mir dabei gedacht habe? Ein Milchkaffee, ein Croissant und ein Müsliriegel reichen dem Körper natürlich keineswegs als „Treibstoff“ für fast 4 Stunden Wandern.
Ich bleibe einige Zeit lang sitzen und bemühe mich, so viel wie möglich zu trinken und zu essen. Besserung tritt nur langsam ein und die Gedanken vom Vormittag drängen sich nochmals auf.

Nach etwa 7 weiteren Kilometern treffe ich gegen halb 2 Uhr in Itero de la Vega ein, das die Ankommenden mit einem bunten Gruß empfängt. Auf die Grillerei, die im Vorgarten einer Pilgerherberge läuft, habe ich weiterhin keinen Appetit. Ich suche ein kleines Geschäft auf und kaufe Schokolade und Cola.

Obwohl der Gedanke, für die restliche Strecke des Tages ein Taxi zu rufen, bereits da war, folge ich meinem Tunnelblick und trete den 15 Kilometer langen Weg ins Etappenziel an.

Im Wissen um den Versorgungsnotstand meines Körpers halte ich nun strengstens alle 20 Minuten eine kurze Pause, um Flüssigkeit und Zucker zuzuführen. Die Wege, die ich durchlaufe, zermürben den Geist und zersetzen jede noch so gefestigte Motivation, derer es mir heute ohnehin bereits mangelt. Stundenlang gehe ich schnurstracks geradeaus. Die Gegend wird „Tierra de Campos“ genannt und fühlt sich an wie das Marchfeld - ausgeweitet auf die Größe Niederösterreichs. Um mich von meinem Frust abzulenken, tue ich etwas, was ich auf dieser Pilgerreise schon lange nicht mehr getan habe: Ich setze mir die Kopfhörer ins Ohr und lenke mich mit einem Podcast von meinem Gedankenspektrum ab.

In Boadilla del Camino fülle ich meine Wasserreserven auf und beobachte die vielen Vögel, insbesondere Störche, die auf der Kirche nisten. Dann folgt eine letzte Tagesprüfung: Als würde der öde Weg am Canal de Castilla entlang nicht fordernd genug sein, biegt der Pilgerweg aufgrund einer riesigen Straßenbaustelle nach links ab und macht hier einen Umweg.


Der Kanal mundet in eine Schleuse, die sich am Ortseingang von Fromista befindet. Es ist heiß geworden und ich ärgere mich über den schlecht markierten Weg.

Völlig entkräftet und ausgelaugt suche ich mein Hotel auf, checke ein und falle auf das Bett. Es dauert lange, bis ich die Kraft aufbringe, wieder aufzustehen und mich zu duschen. Bei einem Blick in den Spiegel erschrecke ich: Der Körper sieht ausgemergelt aus und die Verzweiflung ist mir ins Gesicht geschrieben.
Die Stunden des heutigen Tages und Abends markieren den absoluten Tiefpunkt in der bisherigen Erfahrung dieser Pilgerreise. Ich stelle mit Nachdruck fest, dass ich den Weg auf diese Art keinesfalls zu Ende bringen möchte und kann.
In einem kleinen Supermarkt kaufe ich ein, was mir heute noch schmecken könnte und mein Kaloriendefizit zumindest annährend ausgleicht. Besonders dankbar bin ich heute für ein Telefonat in die Heimat, das mich auffängt und neue Perspektiven schafft. Ich denke noch darüber nach, wie ich den Plan für die kommenden Tage abändern kann und schlafe bald ein.

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