Heute wachen wir ein ein wenig unausgeschlafen auf, zwingen uns jedoch auf den Ruf des Weckers aus dem Bett und packen die Rucksäcke etwas früher als an den letzten Tagen.
Wir betreten den unterkühlten Frühstücksraum pünktlich um 07.30 und kommen dort rasch mit einem älteren Ehepaar aus Oberösterreich ins Gespräch. Während wir unser Müsli löffeln erzählt uns die Dame, dass sie in Spanien den Spuren ihres verstorbenen Vaters folgt. Er sei den Camino Frances gegangen und habe seine Erlebnisse in einem Tagebuch festgehalten. Das lange Gehen komme für sie aufgrund orthopädischer Probleme nicht in Frage, meint sie - daher sind die beiden mit einem Mietauto unterwegs.
Zwei ältere amerikanische Pärchen gesellen sich hüstelnd zur Frühstücksrunde und klagen über hartnäckige Erkältungen. Außerdem werden die üblichen „Pilger-Smalltalk“-Fragen gestellt und über meinen Startpunkt in Wien gestaunt. Ich freue mich über das Interesse, habe die gleichen Fragen aber nun bald schon zu häufig beantwortet.
Gegen 08.15 beginnen wir die heutige 110. Etappe, in der wir auf dem Weg nach Pedrouzo etwa 29 Kilometer zurückzulegen haben.

Wir sprechen uns ab, die erste Pause im 9 Kilometer entfernten Arzua zu machen und wandern flott los. Auf dem Weg unterhalten wir uns über die Qualität der letzten Unterkünfte und Julia beweist erneut ihren guten Blick für kleine, aber sehr kundenorientierte Verbesserungsideen. Von der Früh an liegt Dunst über der hügeligen Landschaft Galiciens und schon bald fängt es aus den schweren Wolken an, zu nieseln.

In der Charakteristik und Umgebung ist der Weg den letzten Tagen sehr ähnlich. Wir durchqueren in einem munteren Auf und Ab alte Mischwälder und riechen den intensiven Duft der Eukalyptusbäume. Auf dem Meilenstein ist inzwischen zu lesen: 43,002 km.

Der Regen lässt nicht nach, eher legt er noch an Intensität zu und ich bin allmählich genervt von dem inzwischen viele Tage lang trüben Wetter. Das Pilgern in Spanien fordert mein Durchhaltevermögen also bis zum letzten Tag ein, denke ich mir.

Eine kleine Brücke führt uns über den Rio Iso und in das Dorf Ribadiso hinein. Im Gegensatz zu vielen anderen Siedlungen in der Gegend sind die Häuser hier in gutem Zustand, die Gassen sauber und die Gärten gepflegt. Unser gestriger Gastgeber Thomas hat uns beim Abendessen von der Landflucht und der Armut insbesondere in den abgelegenen Regionen erzählt: Diese Beobachtungen habe ich in Spanien auch vielfach gemacht. Ribadiso ist jedenfalls ein erfreuliches Gegenbeispiel.

Um etwa halb 11 erreichen wir Arzua, eine farblose Kleinstadt ohne augenscheinliche Besonderheiten. Dem Hinweis im Wegführer folgend kehren wir in der Churreria O Furcancho d‘Santiso ein und bestellen, wofür das Lokal bekannt ist: „Churros“ und dazu zwei „Cafe con Leche“. Das traditionelle und sehr nahrhafte Fettgebäck ist in ganz Spanien beliebt und wird - das ist mir neu - auch gerne in den Kaffee oder die heiße Schokolade eingetaucht. Weiters entdecke ich auf der Karte des Wegführers, dass in Arzua die Wegvarianten des „Camino Primitivo“ und des nördlichen Küstenweges zur Hauptroute dazustoßen.

Nach der willkommenen Pause ist der Weg weiterhin angenehm zu gehen und um uns herum ist das saftige Grün Galiciens zu bestaunen. Ich gebe zu, mir vor dieser Reise wenig Mühe gemacht zu haben, mich detailreich zu informieren; insgesamt habe ich aber statt so viel sattem Grün mehr steiniges und sandiges Gelb erwartet.

Um die Mittagszeit spricht mich ein junger Mann an und innerhalb kürzerster Zeit sind wir in ausführliche Gespräche mit ihm und seiner Freundin vertieft. Die beiden kommen aus Australien, stellen sich als „Ty“ und „Emma“ vor und sollten unsere Weggefährten für einen Großteil des restlichen Tages werden.

In über zwei Stunden gemeinsamer Zeit sprechen wir mit Ty und Emma in unterschiedlichen Konstellationen über Gott und die Welt. Emma berichtet von ihren erheblichen Problemen und Schmerzen aufgrund der überbelasteten Füße und Zehen, und Ty entpuppt sich als überlegt spiritueller, weltoffener und vor allem sehr herzlicher Gesprächspartner. Dieser Austausch unterscheidet sich durch dessen Tiefgang deutlich von vielen anderen Smalltalk-Gesprächen zwischen Pilgern, weshalb ich die Zeit sehr schätze und dafür gerne meinen gestrigen Plan, Zeit alleine zu verbringen, verwerfe.

Ty lässt es sich nicht nehmen, uns auf eine Runde Getränke einzuladen. Wir verabschieden uns mit einer herzlichen Umarmung und hoffen, uns in den kommenden Tagen noch einmal wieder zu sehen. Die zwei australischen Pilger sind uns in kurzer Zeit ans Herz gewachsen.
Die übrigen 6 Kilometer von der Raststation bis zum Etappenziel verlaufen auf breiten Wegen und meist bergab. Auf der linken Seite sind die lichten und hohen Stämme der Eukalytusbäume, und rechts der gewohnte europäsche Mischwald zu sehen.

In O Pedrouzo angekommen suchen und finden wir ein Apartment, das erst vor wenigen Wochen fertig geworden sein dürfte und richten uns hier ein. Die Ortschaft ist nicht besonders ansehnlich, außerdem führt eine stark befahrene Straße mitten durch das Zentrum. Wir bringen unsere Wäsche zur „lavanderia“ und ich frage vergebens nach einem spontanen Termin in einem der Friseursalons.

Da uns keines der Restaurants so recht anspricht, entscheiden wir uns, die Küche des Apartments zu nutzen und kaufen im Supermarkt ein. Offenbar sind wir die Allerersten, die den Herd in Betrieb nehmen wollen, denn das funktioniert auf Anhieb überhaupt nicht. Die zwischenzeitlich gerufene Gastgeberin kann das Problem schließlich lösen und entschuldigt sich mit einer Flasche Wein bei uns. Gebratene Pimentos als Vorspeise und ein saftiger Burger samt Kartoffeln als Beilage, so lautet unser Menü heute. Die Zubereitung habe ich ausschließlich Julia zu verdanken.

Nun ist der Vorabend des großen Tages gekommen und ich fühle mich wie so oft, wenn ein besonderes Ereignis nach langem Warten ansteht: Die Einzigartigkeit ist mir bewusst, das Zähneputzen und zu Bett gehen gleicht doch jedem anderen Tag. Ich freue mich auf die Ankunft, habe mir den Moment schon oft ausgemalt und bin sehr gespannt, wie sich die Emotionen morgen entwickeln werden.
Ich habe vor, es einfach passieren zu lassen.
Ich bin bereit, anzukommen.
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