Bevor der Tag beginnt, fängt er sich einen massiven Startnachteil ein. Die Nacht in dem „geteilten Schlafraum“ ist ein Horror, den ich auf dieser Reise und ohne Not am besten überhaupt nie wieder erleben möchte. Die Luft ist durch die dichte Bettenbelegung schnell verbraucht, vom Geruch möchte ich gar nicht berichten. In kurzen Intervallen wechseln sich Schnarchen, das Rascheln von Schlafsäcken und das Knarren der Betten als lautestes Geräusch ab. Mehrfach in der Nacht wird der Raum verlassen um das WC aufzusuchen und obendrein liege ich stundenlang mit einem flauen Magengefühl wach. Zeitweise meide ich den Blick auf die Uhr; und zwar nicht, weil ich fürchte nur noch kurz liegen bleiben zu können, sondern weil ich nicht feststellen möchte, diese Situation noch länger aushalten zu müssen. Ab halb 6 Uhr ist an Schlaf schließlich sowieso nicht mehr zu denken, denn nun beginnt das große Aufstehen und zusammenpacken. Die Betten in den Herbergen von Burgos sind schließlich begrenzt und „the race for beds“, wie dieser Wahnsinn genannt wird, beginnt früh am Morgen.
Wir warten, bis die Getriebenen das Zimmer verlassen haben und versuchen über das, was wir hier erlebt haben, zu lachen. Ich fühle mich, als hätte ich einen Doppel-Nachtdienst in Mariahilf hinter mir.
Die Albergue bietet kein Frühstück an und muss bis 8 Uhr verlassen werden - so lese ich die Spielregeln im Eingangsbereich nach. Wir treten nach draußen und ein kalt-feuchter Wind weckt uns auf. Mit einem Müsliriegel in der Hand verlassen wir Ages und reihen uns in die Schlange schweigender Pilger ein. Gesicht und Hände werden vor dem beissenden, Nieselregen tragenden Wind so gut es geht geschützt oder verdeckt.

Wir erreichen Atapuerca, wo ein Ansturm und Gedränge bei der einzigen Cafe/Bar zu sehen ist. In unserem Gespräch stellen wir ganz ernsthaft die Frage, wie die - zum Teil deutlich älteren - Menschen die sportliche Tagesbelastung aushalten, wenn die Regeneration so verläuft, wie wir es gerade selbst erlebt haben? Reicht es nicht aus, sich über Wochen hinweg jeden Tag erheblichen körperlichen Belastungen durch das Gehen langer Strecken auszusetzen? Mir fehlt für diese Praxis jegliches Verständnis, zumal gestern Abend auch keinerlei Gemeinschaftsgefühl wie bei einem allgemeinen Abendessen aufgekommen ist.
Während wir darüber sprechen, steigen wir langsam einen Hügelrücken hinauf bis zu einem markanten Holzkreuz hinauf. Ich mühe mich, vor allem mit meinem rechten, immer noch schmerzenden Vorfuß, nicht auf die spitzen Steine zu treten und bin daher hauptsächlich auf den Boden konzentriert. Die Passage ist zeitweise immerhin so rutschig und uneben, dass auch dieser Radpilger schieben muss.


Nun kommt der Großraum der Stadt Burgos in Sichtweite. Auf einigen der Wegtafeln finden wir Schmierereien, die den Davidstern in ein Gleichung mit dem Hakenkreuz setzen. Bei dem Anblick wird mir schlecht und Ärger kocht auf. Jakob und ich sprechen über die rezenten, furchtbaren Entwicklungen in dieser Region und schließen mit einer frustrierenden Feststellung: Besserung und Frieden sind nicht absehbar, von Versöhnung ganz zu schweigen.
Nach einem kurzen Abstieg gehen wir einer Asphaltstraße entlang, die wir so bald nicht mehr verlassen sollten. Da sich das fehlende Frühstück bemerkbar macht, kehren wir im Cafe einer kleinen Ortschaft ein und bestellen Kaffee und Gebäck; für mich ist es der ideale Tag, um eine heiße Schokolade zu trinken.

Die Wegführung, die nun folgt, ist - gelinde ausgedrückt - eine Frechheit. Nach mehreren Asphaltkilometern steht die Überquerung der Autobahnbrücke und das Umgehen eines kleinen Flughafens an. Die relativ neue Brücke wurde mit einem ca. 50cm breiten „Fußgängerstreifen“ gebaut, auf den man mittels eines großen Schrittes über einen Abflusslauf gelangt, um sich dann an der Leitplanke die Knie zu stoßen.

Anschließend fädelt sich die Kette von Pilgern etwa einenhalb Kilometer lang zwischen dem Flughafenzaun und der Landstraße auf. Ich möchte mir das Unfallpotenzial gar nicht ausmalen!

Glänzender Höhepunkt des Weges nach Burgos bleibt jedoch eine, für den Fußgänger schier endlos lange, gerade Straße, die durch ein Industriegebiet führt. Der Gehsteig ist meist schmal und in schlechtem Zustand, der Verkehr und Lärm ringsherum ohrenbetäubend und so manche Bruchbude ist mittlerweile leerstehend und verlassen. Die Bewältigung dieser demütigenden Aufgabe dauert etwa einenhalb Stunden, dann ist zumindest das Stadtgebiet erreicht. Zum Vergleich: Das ist in etwa so, als würde man Wien nicht über die Lobau und die Donauinsel wandernd erreichen, sondern der B7 (Brünnerstraße) von Wolkersdorf bis zum Floridsdorfer Spitz entlanggehen.

Bevor wir das Wohnbaugebiet erreichen, schreiten wir noch das linkerhand liegende Werksgelände von Bridgestone-Reifen ab.

Diese Zeilen bilden sicherlich auch ein Ventil für meine Emotionen ab, die heute keinen Höhenflug erleben. Die fehlende Erholung, der beissende Wind, der schmerzende Fuß am Asphalt, die Aussicht auf eine schwierige Buchungslage annehmbarer Unterkünfte und vor allem diese kaum ertägliche Wegführung nach Burgos führen mich an einen Punkt, den ich überhaupt nicht habe kommen sehen: So konkret habe ich über einen Abbruch dieses Projekts noch nie nachgedacht.
Ich kann mich nur sehr wundern, dass der Stadtverwaltung von Burgos derart gleichgültig ist, wie der weltbekannte Jakobsweg durch deren Zuständigkeitsbereich verläuft und welchen Eindruck die Stadt auf die Touristen aus aller Welt bei der Ankunft hier macht. Wer ist dafür verantwortlich? Kümmert es wirklich niemanden?

Im Stadtgebiet von Burgos angekommen vergeht eine weitere Dreiviertelstunde, bis wir in die Altstadt einbiegen. Endlich, dafür schlagartig, ändert sich das Bild und wir bekommen - bislang entmutigt - den schönen Teil der Stadt zu sehen.

Das etwa 170.000 Einwohner zählende Burgos wurde im 9. Jahrhundert gegründet und wurde im 11. Jahrhundert die erste Hauptstadt des neuen Königreichs Kastilien.
Ein markanter, rot gekennzeichneter Pflasterpfad führt die Pilger durch die geschäftige und gepflegte Innenstadt.

Wir folgen dem Bodenwegweiser und stehen schon bald vor der atemberaubenden Kathedrale gigantischen Ausmaßes.


Hier endet der heutige, aufreibende und zugleich letzte gemeinsame Pilgertag. Wir essen in einem kleinen asiatischen Lokal hinter dem Monument ein gutes Mittagessen, genießen die Sonne auf dem großen Vorplatz und stoßen mit einem kleinen Bier auf eine tolle, gemeinsame Zeit an.
Ich bin dankbar für deine Begleitung auf diesem langen Weg, lieber Jakob! Das letzte Jahr miteingerechnet haben wir die Strecke von Condom in Frankreich bis tief nach Spanien gemeinsam absolviert. Du bist ein wichtiger Mensch in meinem Leben und auch auf dieser Reise. Danke!

Ich steige ein paar Stufen hinauf und beziehe mein Hotel; dass ich dabei ein Zimmer mit direktem Blick auf die Kathedrale bekomme, freut mich besonders. Nach der Körperpflege und einer kurzen Rast raffe ich mich nochmals auf, um die Kathedrale zu besichtigen.
An dem riesigen Bauwerk arbeiteten zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert viele bedeutende Baumeister und Bildhauer. Mit einem vergünstigten Pilgerticket betrete ich den Innenraum und fühle mich von der Größe, insbesondere aber von den dicht geschachtelten Abteilungen erschlagen.

Hohe Gitter teilen den Monumentalbau in Einzelbereiche, dazu kommen viele Seiten- und Nebenaltäre sowie Kapellen.


In scheinbar jeder nutzbaren Ecke, sogar im Chorgestühl sind prominent die Grabmähler verschiedener Kirchenfürsten, vor allem aber von weltlichen Herrschern eingesetzt. Ich habe den Eindruck, dass sich die Könige aus verschiedenen Epochen ihre besonderen Plätze „vor Gott“ sichern wollten - am besten mit einem jeweils eigenen Altar. Ist das eine antiquierte Art, das eigene Gewissen reinzuwaschen?

Der Kirchenraum wirkt durch diese Nutzung jedenfalls dysfunktional. Ich wüsste nicht, wie man hier eine Messe gestalten soll?

Ein langer Rundgang führt mich aus dem Hauptschiff heraus und in den Kreuzgang, an den ebenfalls weitere Kapellen angeschlossen sind. Selbst hier ist an jeder Ecke ein Grab zu finden.


Ich habe nicht die Energie und Aufmerksamkeit, dem Audioguide des empfehlenswerten Rundgangs zu folgen, gehe deshalb einfach mit offenen Augen langsam durch die Gänge, Hallen und Kapellen und lasse diesen eindrucksvollen Komplex auf mich wirken.

Ich bin sehr froh, dass ich das Hotelzimmer heute für mich alleine habe und freue mich auf einen guten, erholsamen Schlaf!
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