Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang schlafen wir heute Nacht - und zwar endlich wirklich erholsam. Als wir kurz nach 7 Uhr den Frühstücksraum betreten, herrscht hier noch gähnende Leere. Immerhin ist das Buffet groß und bereits fertig, und wir stärken uns für einen besonders langen Pilgertag.
Der Nachhall der Samstagnacht war in der fröhlichen Nacht noch lang zu hören. Frühmorgens werden nun die letzten Übriggebliebenen und vor allem der angefallene Dreck mit einem riesigen, mobilen Hochdruckreiniger weggespült. Das habe ich so auch noch nirgends gesehen…

Gemeinsam navigieren wir den Weg aus der Stadt heraus und kommen dabei an der riesigen Wehranlage, der Zitardelle, vorbei. Da die Anlage zu der frühen Stunde noch nicht geöffnet ist, gehen wir außen herum durch einen Park.
An der Universität vorbei verlassen wir Pamplona, wo wir gerne zu Gast waren. Bald danach führt uns eine Brücke über die Autobahn A12, die die im Hintergrund sichtbare Stadt mit Logrono und Burgos verbindet. Die laute Verbindungsader sollten wir an diesem Tag noch des Öfteren zu sehen und hören bekommen.

Jakob folgt seinem inneren Rhythmus und legt deutlich an Tempo zu. Schon bald ist er hinter dem nächsten Anstieg verschwunden.
Ich fühle in meinen Körper hinein, finde ein gutes Tempo und muss nur einmal noch kurz Halt machen, weil es im Schritt zwickt und eine Abhilfe mit Hirschtalg notwendig ist.
Unter beinahe wolkenfreiem Himmel wird es schnell warm. Der Weg führt auf einem Schotterweg sanft einen Anstieg hinauf und lässt dort einen offenen Blick auf Pamplona und die dahinter liegenden Berge zu. Wo der Weg über so weite Strecken einsichtig ist, sieht man die Pilger wie an einer Kette aufgereiht vor sich hin gehen. Der unsichtbare Faden, der sie verbindet, ist das gemeinsame Ziel in Santiago.

Ich lasse den Gedanken sickern und frage mich bald: ist es wirklich das Ziel, das uns verbindet?
Eine Streife der „Guardia Civil“ mit zwei besonders hübschen Beamtinnen fährt langsam die Strecke ab und vergewissert sich, dass niemand in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Als ich kurz danach bei einem älteren amerikanischen Pärchen vorbeikomme, und deren körperliche Schwierigkeiten wahrnehme, denke ich mir: An der Größe der Rucksäcke lässt sich die Last, mit der die einzelnen Pilger unterwegs sind, nicht ablesen. Ich bin beeindruckt, wie entschlossen sich offensichtlich leidgeplagte, hinkende und gebeugte Menschen auf diesem Weg bewegen. Und das bildet nur den sichtbaren Teil der Last ab, mit dem Menschen hier her kommen.
Bei aller spielerischer Niederschwelligkeit, mit der „Gemeinschaft“ am Camino gelebt wird, ist es der Beweggrund der uns verbindet - so unterschiedlich er auch sein mag. Der Tiefere Sinn, warum wir diesen Weg nach Santiago, zu uns selbst und vielleicht auch zu Gott auf uns nehmen. Für so manchen mag sich der Grund seines Gehens noch gar nicht genau eröffnet haben, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand diese Zeit und Strapazen auf sich nimmt, nur um eine Aufgabe von der „to-do-Liste des Lebens“ abzuhaken.
Die Tatsache, dass sich Menschen in diesem Geist im Schatten einer Kirche zur Pause setzen, um sich zu unterhalten und einander zu unterstützen, rührt mich zu Tränen.

Hinter der Ortschaft wird die Schotterpiste bald zu einem engen Steig. Mountainbiker passieren den stetigen Ameisenzug von Pilgern und ich frage mich wirklich, ob das sein muss? Viele Wanderer müssen ständig ausweichen und der Radfahrer muss ständig anhalten.
Eric aus Kanada spricht mich an und vermutet aufgrund meines ‚deuter‘ Rucksackes, dass ich Deutscher sein könnte - er entschuldigt sich umgehend, als ich erzähle, aus Wien zu kommen. Ein kurzes, aber spannendes Gespräch entwickelt sich und der freundliche Nordamerikaner erfüllt das Klischee: Im Gegensatz zum stereotyp ungebildeten US-Amerikaner unterscheidet er präzise zwischen den europäischen Ländern.

Wir erreichen die Passhöhe „Puerto del Perdon“, zu der es eine christliche Legende gibt, die für mich allerdings wenig Substanz trägt. Auf der Anhöhe steht heute ein Friedensdenkmal und Erik erzählt mir, dass der Ort unter Amerikanern sehr bekannt sei, weil hier eine Szene des Films „The Way“ gedreht wurde. Tatsächlich machen hier viele Rast und knipsen Fotos.

Auf der anderen Seite des mit Windrädern gespickten Hügelrückens ist dieser Steinkreis zu finden. Dieser Ort hat für mich eine spannende Anziehung und Wirkung.

Ich bemühe mich mit Bananen und Schokoladeriegeln, mein Kaloriendefizit über den Tag hinweg nicht allzu groß werden zu lassen, trinke ausreichend Wasser und mache mich dann auf den Weg durch das spanische Hügelland, das nun vor mir liegt.

Auf den folgenden, abwechslungsreichen Weg ist nicht allzuviel Betrieb und ich gerate in einem meditativen Tritt. Die Strecke durchläuft kleine Ortschaften und der Weg ist dank Beschilderung und metallernen Muscheln, die in den Boden eingelassen sind, immer leicht zu finden.

In der Kirche von Obanos hat offenbar gerade eine Taufe stattgefunden und die feiernden Familien machen im gleißenden Licht der Nachmittagssonne Fotos. Am Vorplatz finde ich diese künstlerische Darstellung des Gekreuzigten und ich denke an den schweizer Bildhauer Alberto Giacometti.

Mir wird nun richtig warm und viel zu spät realisiere ich, dass ich in der Früh zwar mein Gesicht, nicht aber meine Unterarme mit Sonnencreme eingeschmiert habe. Gegen halb 2 Uhr Nachmittags treffe ich nach über 25km Weg in Puente la Reina ein, wo Jakob unter einem Nadelbaum bereits 50 Minuten (!) auf mich wartet. Sein Tempo und seine Fitness beeindrucken mich.

Die Santiagokirche des Ortes ist eng zwischen den Häusern eingepfercht, beeindruckt von außen dennoch mit einer romanischen Fassade aus dem 12. Jahrhundert und einem großen Eingangsportal. Innen fühle ich mich vom Kontrast des vielen Gold der Altäre gegen die schlichten Grundmauern erschlagen. Ich kann mir vorstellen, wie aufwändig es sein muss, doch es wäre dringend notwendig, das ganze Gold einmal abzustauben…

Puente del Reina verdankt seinen Namen der Brücke, die im 11. Jahrhundert im Namen der Königin Navarras erbaut wurde, um den Pilgern den Weg über den Rio Arga zu erleichtern. Die Stadt kennzeichnet einen wichtigen Punkt am Jakobsweg durch Spanien, da sich kurz zuvor in Obanos und Eunate die wichtigsten nordspanischen Wege vereinigt haben. Die Ortschaft hat sich um die lange Pilgerstraße durch den Ort gebildet. Die sogenannte „sirga pelegrinal“ hat seinen mittelalterlichen Charakter beibehalten.

Wir übersetzen die Brücke und haben nun noch etwa 15 weitere Kilometer bis zum Etappenziel vor uns. Zwar ist die Temperatur noch nicht allzu hoch, doch die starke Frühlingssonne brennt vom Himmel und ermüdet uns zunehmend. Wiederholt unterqueren die die Autobahn A12 und wandern durch kleine Ortschaften. Ein besonders schöner Anblick ergibt sich, als wir auf die, am Hügel errichtete Stadt Cirauqui zugehen.

Hinter der menschenleeren Kleinstadt gehen wir die alte Römerstraße bergab und überqueren dann eine verfallene Brücke aus ebenjener Zeit.


Leuchtend gelbe Rapsfelder verleihen dem Frühling eine frohe Farbe. Der Geruch der Rapsblüte erinnert mich an eine ganz spezifische Kindheitserinnerung: Der Besuch mit der Kindergartengruppe bei einem ortsansässigen Imker in Gerasdorf.

Die letzten Kilometer ins Ziel ziehen sich und gestalten sich bei brennenden Fußsohlen sehr anstrengend. Wir sind sehr froh, anzukommen.

Ein besonderes Lob gilt heute der Unterkunft, deren 9.9* Bewertung beinahe unglaubwürdig klingt, doch hier passt absolut alles und die liebenswerte Gastgeberin samt Mutter sind auf Pilger als Gäste bestens vorbereitet. Von der Mitbenützung der Waschmaschine bis zum Abendessen zum selbstgewählten Zeitpunkt ist in der modernen Unterkunft an alles gedacht.
Nach einem angenehmen Plausch mit einem Pilger aus Australien und einem österreichischen Pärchen aus Steyr, das wir vom ersten Abend dieses Abschnitts kennen, schreibe ich spätabends meine Zeilen fertig und werde mich umgehend danach ins Bett legen.
Bis morgen!
Komentáre