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Etappe 81 - Nogaro nach Aire-sur-l‘Adour

Autorenbild: Simon ExenbergerSimon Exenberger

Das Nachts offene Fenster auf die Hauptstraße im Zentrum der Stadt war nicht die beste Entscheidung. Immer wieder werden wir von lauten Gesprächen in der eigentlich ruhigen Kleinstadt geweckt.


Der Wecker läutet um 7 Uhr und wir essen ein klassisch französisches Frühstück mit Baguette, Marmelade und einem großen Heferl Filterkaffee. Wir nehmen Platz auf den Biedermeier-Sesseln mit durchgesessenen Federn in der Sitzfläche - das Ambiente ist stimmig und stilvoll.


Der Weg aus Nogaro heraus führt über einen Hügel, wo die Infrastruktur mit Elektrizitätsanbindung und den typischen weiß-grauen Wassertürmen steht.


Schon bald nimmt jeder von uns sein eigenes Tempo auf und ich falle mit einem intuitiven Trott bald hinter meinen Freund Jakob zurück. Die Sonne streift die Landschaft in flachem Winkel und taucht die taunasse Natur in eine wunderschöne Morgenstimmung.

Die Luft ist etwas schwül und schwer, aber die Schritte gehen wie von selbst. Meine Aufmerksamkeit ist nach Innen gekehrt: Gedanken kreisen zunächst wie vor einem Staudamm gebremst, ein trübes Hin und Her unterschiedlicher Ideen.


Wie schon so oft hilft mir das Gehen selbst, Bewegung in das stehende Gewässer zu bringen. Die häufigen Richtungswechsel lösen langsam die Blockade, öffnen schrittweise die Tore der Staumauer und meine Gedanken beginnen zu fließen. Ohne ein inneres Bemühen, sie aufzuhalten, ist aus dem Stillstand ein geistiges Fließgewässer geworden.


Diesen Zustand muss man aushalten. Ich erinnere mich dabei an meine rudimentären Bemühungen, mich in der Meditation zu üben. Den Gedankenfluss durch den Augenblick der Wahrnehmung rieseln zu lassen, verlangt einiges an Akzeptanz. Ich freue mich, wie gut das heute klappt.


In der Zwischenzeit hat die Rennstrecke von Nogaro wieder ihren hörbaren Betrieb aufgenommen und die Route des GR 65 führt an großen Maisfeldern vorbei und durch kleine Waldstücke.

Wie mit dem Rasenmäher sind die Maisfelder auf einer Höhe von etwa 1,80m abgeschnitten. Das ist mir neu.

Die Vielfalt und Intensität meines Gedankenflusses überwältigt mich. Unruhe und Unsicherheiten machen sich breit. Es sind so viele Dinge, die mich beschäftigen, die ihren Raum fordern und ihn jetzt auch bekommen. Ich denke an Beziehungen zu mir lieben Menschen, gewichtige Entscheidungen, mein Arbeitsumfeld, kürzlich erlebte Einsätze in der Notfallmedizin und an anstehende Aufgaben. Bei dieser Fülle an Gedanken, die nicht alle einfach sind, habe ich einen schweren Kopf.


Ähnlich sieht es bei den Sonnenblumen aus, die noch vor wenigen Wochen in sommerlicher Farbpracht gestrahlt haben.

Ich erreiche nach etwa zwei Stunden die Kirche Sainte-Pierre und werde daran erinnert, eine Trinkpause zu machen. Die vorwiegend romanische Kirche aus dem 16. Jahrhundert bietet unter einem überdachten Eingangsbereich Sitzgelegenheiten für müde Pilger. Noch lieber wäre mir eine halbe Stunde seichter Schlaf in einer der Hängematten im Garten der verlassenen Unterkunft nebenan gewesen.


Mein Snack besteht aus Wasser, Nüssen und einem kleinen Brownie, außerdem schafft ein Blick auf den Wanderkartenausschnitt neue Struktur.

Wenige hundert Meter nach der Kirche passiere ich einen Bauernhof, wo gerade die Ernte eingebracht wird. Die Frontpartien der großen Traktoren erinnern mich an das böse "Gschau" von Hornissen - lustigerweise eine Assoziation, die Jakob im späteren Abgleich des Erlebten genauso hatte.

Ich begegne im Wald einem Jäger, der das Gewehr geschultert hat und freundlich grüßt, danach bin ich wieder mit meinen Gedanken alleine. Die Bäume und Sträucher wirken beruhigend auf mich. Ich erinnere mich an das, was mir meine Schwester Anna auf dem gemeinsamen Wegabschnitt in der Schweiz einmal gesagt hat. In Referenz auf Beppo, den Straßenkehrer aus Michael Endes "Momo und die grauen Herren", lautete der Tenor ihres Hinweises: Wer vor vielen oder scheinbar unlösbaren Aufgaben steht, ist oftmals gut beraten, nur an den nächsten Schritt zu denken und diesen auch zu gehen. Das passt so gut! Zu meinem langen Weg, den man vielfach zunächst bis zur nächsten Ecke, Pause oder zum Tagesziel denken sollte; und metaphorisch auch für das "Quo vadis?" im Leben. Wichtig ist, weiterzugehen - Irrtümer lassen sich nicht vermeiden, indem man stehen bleibt oder erst gar nicht losgeht. Im Gegenteil!


Wie schon häufiger in meinem Leben habe ich kurz darauf den Text eines Liedes im Ohr, das ich sebst schon oft gesungen und noch öfter gehört habe. Da heißt es in "Good Riddance" von Green Day:


Another turning point,

A fork stuck in the road.

Time grabs you by the wrist,

Directs you where to go.


So make the best of this test

And dont ask why.

Its not a question,

but a lesson learned in time.


(beste Version: Album "Bullet in a bible" live at Milton Keynes,GB)


Ein sowohl gedanklich wie emotional intensiver Vormittag entwickelt nun eine positivere Grundstimmung und wird jäh von einem unwahrscheinlichen Zufall unterbrochen: Wer hätte gedacht, dass mir dieser rote Krebs hier über den Weg läuft?

Geistig ermüdet fallen mir beim Gehen mehrfach die Augen zu. Der Weg verläuft zwischen Weingärten und Maisfeldern auf den Ort der geplanten Mittagsrast zu.

Kurz vor 12 Uhr treffe ich bei der Kirche im kleinen Dorf Lelin-Lapujolle ein, wo ich den empfohlenen Rastplatz aufsuchen möchte. Da gerade eine große Gesellschaft Gruppenfotos mit einer Drohne am Vorplatz aufnimmt, gedulde ich mich einige Minuten und suche dann den empfohlenen Rastplatz hinter der Kirche auf.

Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass Jakob hier auf mich warten würde, doch er ist nirgends zu finden. Das passt so, schließlich haben wir uns ausgemacht, dass jeder von uns je nach Gefühl die Weg- und Zeitgestaltung alleine gestalten soll. Stattdessen komme ich beim Jausnen mit einem älteren Pilgerehepaar aus Frankreich in ein kurzes Gespräch. Die Tatsache, dass ich meinen Weg in Wien begonnen habe, stößt auf Verwunderung. Hier ist es üblich, die Pilgerreise in Le Puy-en-Velay zu starten.


Nach einer halben Stunde Rast breche ich auf. Schmale Asphaltstraßen führen mich zu einer aufgelassenen Bahnstrecke, von der ich weiß, dass ich dem Verlauf für einige Kilometer folgen muss. Ich wende mein Credo "Pause machen, wie sie fällt" mache ich bei einem kleinen privat organisierten Picknickstand halt und sitze plötzlich mit einem Löskaffee mitten auf der ehemaligen Zugstrecke.

So sieht Nahverkehr also in Frankreich aus. Über das mangelhafte Netz öffentlicher Verkahrsmittel habe ich mich an anderer Stelle ja bereits ausgelassen.

Die Strecke der Bahntrasse entlang ist zwar monoton, aber zumindest keine Asphaltpiste wie der Radweg vorgestern.

Die letzten Tageskilometer ziehen sich am Ende trotzdem ziemlich dahin. Ich komme an einem alten Waschhaus vorbei und gehe durch die Straßen des Nebenorts Barcelonne-du-Gers, über dem ein Segelflieger seine Runden dreht. Weitere 30 Minuten später überschreite ich den Adour, der in den Pyrenäen entspringt und schließlich in Bayonne in den Atlantik mündet. Direkt nach der Brücke wartet Jakob in einer Wiese am Ufer liegend. Er erzählt mir, dass er bereits vor einer Stunde in Aire-sur-l'Adour angekommen ist.

Wir setzen uns bei einem kleinen Bier zu einem Gespräch über das heute Erlebte zusammen und beziehen danach unsere liebevoll gestaltete Unterkunft in einem restaurierten, alten Haus im Zentrum der Kleinstadt.


Als wir gegen 18 Uhr zu einer Stadtrunde aufbrechen, fallen vor der Markthalle die ersten Tropfen vom Himmel.

Am heutigen Sonntag ist in Aire-sur-lAdour wenig los und wir haben das meiste bald gesehen. Das Hotel de Ville ist sichtlich in die Jahre gekommen.

Air-sur-l'Adour blickt auf eine lange Geschichte zurück. Erstmals im Jahr 506 erwähnt, wohnten hier Kelten, Römer und Westgoten. Von dem Ort gibt es außerdem die frühchristliche, brutale Märtyerergeschichte der heiligen Quitteria, die der Legende nach aus völlig absurden, dogmatischen Gründen ermordet wurde. Wir besuchen die Kathedrale Saint-Jean Baptiste, mit deren Bau im 12. Jahrhundert begonnen wurde.

Dankenswerterweise dürfen wir bei der liebenswerten Gastgeberin unsere Wäsche waschen. Danach endet unser Abend in einer Brasserie, wo wir viel lachen, einen soliden Burger verspeisen und zuletzt noch den aus der Region stammenden Armangnac-Weinbrand probieren.


Sowie der Regenschauer vorübergezogen ist, wird es mit den letzten Sonnenstrahlen noch einmal hell und es entsteht diese grandiose Lichtstimmung über der Stadt.

Ich bedanke mich für diesen dritten Tag des Abschnitts, der gut verlaufen und ohne gröbere Weh-Wehchen von statten gegangen ist und freue mich auf morgen!


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1 Yorum


Hermann Exenberger
Hermann Exenberger
19 Eyl 2023

Lieber Simon!

Jeder Gedanke, jeder Satz, ja auch jedes Bild ist ein großes Geschenk für mich.

Daher ist dieser Dank auch etwas Geheimnisvolles...

Ich bin immer der Beschenkte.

"danke tausendmal" Es ist für mich wieder schön, an dieser Reise teilnehmen zu dürfen

Liebe Grüße an Dich und an Herrn Lang. Dein Opa

Beğen

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