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Etappe 78 - La Romieu nach Condom

Autorenbild: Simon ExenbergerSimon Exenberger

Aktualisiert: 29. Mai 2022

Das Ende dieses Abschnitts in Frankreich ist mit der heutigen Tagesetappe nach Condom gekommen. Dichte Bewölkung und gemischte Gefühle begleiten mich auf den ersten Kilometern zurück nach La Romieu. Ich habe in der Früh geträumt, den Weg spontan doch fortzusetzen und konnte im Traum schon die Pyräneen am Horizont aufblitzen sehen. Die Vorstellung beschäftigt mich so sehr, dass ich tatsächlich prüfe, ob ich den Zug noch umbuchen und 3 Tage länger gehen kann. Alle anderen Optionen sind ausgebucht, ich kann die absurde Idee verwerfen - und doch nagt der Gedanke im Hinterkopf.

Ich gehe heute ein gemächliches Tempo: Das Ziel ist nicht allzu weit und der Bus fährt erst gegen 16 Uhr. Nach etwa einenhalb Stunden erreiche ich das Dorf Castelnau-sur-l‘Auvignon.

Auf großen Informationstafeln steht die spezielle Geschichte des Ortes beschrieben. 1942 organisierte sich hier unter dem Mitwirken eines britischen Offiziers und einer örtlichen Volkschullehrerin eine multinationale Widerstandsgruppe aus Franzosen, Spaniern und Italienern gegen die Nationalsozialisten. Am 21. Juni 1944 wurde Castelnau-sur-l‘Auvignon Schauplatz heftiger Kämpfe dieser Gruppe gegen die deutschen Truppen. Im Zuge eines schweren Gefechts wurde als letzte Verteidigungsmaßnahme der Turm einer mittelalterlichen Burg gesprengt und die Widerstandskämpfer versuchten die Flucht, während die deutschen Militärs das ganze Dorf abbrannten. An dieses Ereignis erinnert heute ein Denkmal in der Nähe der Turmruine.

Wie so oft stelle ich mir in diesem Zusammenhang die hypothetische Frage: Was hätte ich getan, wie wäre es mir ergangen? Nachdem diese Konjunktive eine gedankliche Sackgasse sind, beginne ich langsam mit einer Rückschau auf die letzten Wochen.


Die Chapelle Sainte-Germaine liegt in einem kleinen Garten, der mit halbhohen Mauern eingefasst ist. Hier lege ich eine Pause ein und nasche die Erdbeeren, die mir meine gestrigen Gastgeber aus deren eigenen Garten mitgegeben haben.

Auf den letzten Kilometern nach Condom beginnt sich Wehmut breit zu machen. Nun bin ich schon sehr lange unterwegs: Das Leben aus dem Rucksack und der tägliche Quartierwechsel sind an manchen Tagen zwar ein wenig anstrengend, hielten mich allerdings nicht vom Weitermachen auf. In meinem wegbegleitenden Taschenbuch lese ich, dass nur wenige Kilometer hinter Condom eine alte Pilgerbrücke liegt, mit deren Überschreitung die restliche Distanz bis Santiago erstmals unter 1000 km beträgt. Mir ist schon bewusst, dass es nur um eine Zahl geht - und trotzdem ärgert es mich ein wenig. Ich schreite gedankenversunken das Westufer des angestauten Lac de Bousquetara ab, an dessen Rändern einige Fischer beschäftigt sind.

An der Hälfte des Stausees verlasse ich das Gewässer auf die Zielgerade und kann nach einem kleinen Hügel die Stadt Condom sehen. Das sind sie also, die letzten Meter. Hunderte Kilometer liegen hinter mir, warum hänge ich so sehr an diesen vorerst letzten? In diesem sensiblen Moment bricht die Wolkendecke und lässt über meinem Ziel ein blaues Fenster entstehen. Ja, es ist okay. Aber ich tue mir schwer.

Wie in vielen Städten zuvor ist die Route des Jakobsweges durch Condom mit metallernen Scheiben am Boden gekennzeichnet. Vielerorts war ich bei der Ankunft in der Stadt so abgelenkt, heute komme ich ganz bedacht an und nehme mir Zeit, das Detail festzuhalten.

Die ca. 7000 Einwohner zählende Stadt Condom in der Gascogne-Region wurde bereits zur Römerzeit besiedelt und beherbergte ab 1011 ein Benediktinerkloster, das später bis zur französischen Revolution Bischofssitz war. Längerfristig erhielt sich die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt als Kreuzungspunkt von Handelsrouten mit einem direkten Schiffsweg nach Bordeaux über die Baise.


Auf dem Weg zur Kathedrale komme ich an den lebensgroßen Figuren der Musketiere vorbei. Ich lese nach und erfahre, dass d'Artagnan Gascogner war. Generell war mir die Geschichte des Gardisten unter Ludwig XIV. bisher nicht bekannt.

Im Hintergrund ist bereits die mächtige Kathedrale Saint-Pierre zu sehen. Sie ist die letzte, die noch im Stil des Languedoc (einschiffige Saalkirchen mit Einflüssen der römischen Antike und der westgotischen Architektur) um das Jahr 1510 erbaut wurde.


Für die Besichtigung des Gotteshauses kann ich mir heute Zeit nehmen, umhergehen und den prächtigen Innenraum von vielen Seiten betrachten.


Außerdem nehme ich mir einen einen Moment der Stille und des Gebets, um mich für die unfall- und krankheitsfreie Reise des letzten Monats zu bedanken. Als ich so dasitze und reflektiere, wird mir wieder bewusst, wie unzählbar sich die schönen Momente in den letzten Wochen gehäuft haben. Für dieses Geschenk kann ich nur DANKE sagen.

Die Wartezeit bis zur Abfahrt meines Linienbusses vertreibe ich mir damit, in jeder Bar / jedem Cafe auf dem Hauptplatz mit Blick auf die schöne Kathedrale, ein kleines Bier zu trinken. Das Programm ist also einfach, aber sehr vergnüglich.

Gegen 15 Uhr erreichen mehr und mehr Pilger den Hauptplatz von Condom (dessen Name natürlich nichts mit dem Verhütungsmittel zu tun hat, sondern vermutlich aus dem lateinischen "con-dominum" herrührt). Eine große, sportliche Dame spricht mich auf Deutsch an, und fragt, ob ich Simon heiße, und ob ich derjenige mit dem Blog sei. 'Wie spricht sich das denn herum...', wundere ich mich und sie erklärt, dass sie die sportlichen Pensionisten Dominique und Daniel getroffen habe. Manchmal scheint die Welt groß und manchmal klein zu sein, unter kommunikativen Pilgern spricht sich so manches jedenfalls schnell herum.


Karin kommt aus Norddeutschland und hat ihren Weg ebenfalls vor der Haustüre begonnen. Wir sprechen noch ein wenig über die Routenführungen in unseren Ländern und die unterschiedlichen Erfahrungen, die sich durch die Art der Unterkünfte ergeben können (sie pilgert nun mit einem Zelt).

Ich umgehe die Kathedrale nochmals und finde vor der schmucklosen Markthalle tatsächlich einen wartenden Kleinbus auf dem Parkplatz. Das Gefühl nun einzusteigen ist vor allem deshalb spannend, weil ich schon lange mit keinem motorisierten Gefährt unterwegs war.

Die einstündige Fahrt nach Agen ist straßenbedingt ein wenig holprig und der Fahrer lässt es laufen. Häuser, Felder und Waldstücke fliegen in einer Geschwindigkeit an mir vorbei, die ich nicht mehr gewohnt bin. In meinem Ohr liegt der Ohrwurm von "I am coming home".


Agen ist eine Stadt mit über 30.000 Einwohnern und Hauptstadt des Departements Lot-et-Garonne. Sie liegt in der Achse Bordeaux-Toulouse, ist an das TGV Netz angebunden und daher eine günstige Ralais-Station für mich.


Auf dem Weg in das Hotel besuche ich die Kathedrale, die dem hl. Caprasius geweiht ist. Sie sieht viel pompöser aus, als die großen Kirchen, die ich in den letzten Tagen gesehen habe. Beinahe die gesamte Decke, insbesondere die Apsis, ist mit beeindruckenden Fugenmalereien aus dem 19. Jahrhundert ausgestaltet.

Ich sehe mir die Zugoptionen für meine morgige Fahrt nach Paris an, und kaufe ein günstiges Ticket für die erste Klasse. Der Nachteil ist die Abfahrtszeit um 05:35, doch die Fahrkarte der zweiten Klasse kostet um 07:35 deutlich mehr und da stehe ich dann lieber früh auf.


Schon jetzt vermisse ich die Einfachheit des Gehens.


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