Um 5 Uhr morgens wecken mich die Frösche des Teiches zum ersten Mal. Ich habe mir zwar vorgenommen, in Anbetracht der erneut hitzigen Wetterprognose, früh zu starten - doch um 5 schaffe ich es noch nicht aus dem Bett.
Als ich die Fischerhütte verlasse, ist es kurz nach 7. Müde betrete die Kirche von Rouillac und bleibe ein paar Minuten sitzen. Durch ein einziges, nach Osten gerichtetes Fenster dringt die Sonne in den Raum und erzeugt eine Lichtstimmung, die mit keiner Kamera der Welt festzuhalten ist. Gebannt bleibe ich sitzen, nehme die Szene zuerst für mein inneres Auge auf und versuche es dann mit der Kameralinse.

Draußen auf den Feldern ergibt sich ein anderes Bild. Die kräftige Sonne steigt rasch in einen wolkenfreien Himmel hinauf und scheint so grell, dass man kaum hinsehen kann.

An Tagen wie diesen gilt „Je früher desto besser“, ein Ratschlag, den jeder kennt - der mir in seiner vollen Tragweite heute nochmals schmerzhaft bewusst werden sollte.

Ich treffe auf Emmanuelle, eine sportlich aussehende Französin, die sich schon so früh am Tag sichtlich plagt. Die Sprachbarriere verhindert ein Gespräch über Details, soweit ich es verstanden habe, dürfte sie aber einige Blasen an den Füßen haben. Ich würde gerne meine erlernten und nun lang geprüften Tipps geben (jede Menge Hirschtalg, alte Socken, weiche und große Schuhe). Schmerzgeplagt legt sie bald eine Pause ein und ich bleibe in Bewegung.
Mich plagen zwar keine Schmerzen, doch schon auf den ersten 10 Kilometern, dem Weg nach Lauzerte, begleitet mich eine starke Müdigkeit. Der ganze Körper fühlt sich schwer und jeder Schritt anstrengend an.

Bevor ich zu der kleinen Stadt am Hügel hinaufsteige, kaufe ich noch Bananen, Schokolade und Nüsse im Supermarkt (wie ich es von Wolfgang gelernt und übernommen habe). Die altertümliche Stadt hat sich ein historisches Ortsbild aus dem Mittelalter erhalten und scheint heute in der Liste der schönsten Dörfer Frankreichs (“Les Plus Beaux Villages de France“) auf. Die Siedlung geht auf das 12. Jahrhundert zurück, als man die Straße zwischen Cahors und Moissac bewachen wollte.
Ein kleiner Blumenstand kündigt bei meinem Eintreffen an, worauf ich gehofft hatte…

Auf dem Hauptplatz findet heute Vormittag der Markt statt! Die Händler verleihen dem Platz mit ihren unterschiedlichsten Produkten bunte Farben, vielfältige Gerüche und ein fröhliches Miteinander. Ich setze mich in den Schatten eines Cafe, trinke einen Espresso und beobachte, wie lang und intensiv sich so mancher Kunde mit dem Verkäufer unterhält. Es gibt belastenderen Gesprächsstoff, denke ich.


Der Platz ist so schön und voller Leben, dass ich ihn von mehreren Seiten fotografieren musste. Mit meinem dürftigen Französisch kaufe ich ein paar kleine Leckerbissen zum probieren. Zwischen den Schachspielern und den ersten servierten Bieren hätte ich noch länger sitzen bleiben können, doch auf mich warten heute noch einige Kilometer Wegstrecke.
Von der westlichen Aussichtsplattform, auf der eine Kanone die Wehrhaftigkeit vergangener Tage demonstriert, hat man einen tollen Ausblick über die Täler der kleinen und großen Barguelonne.

Außerdem möchte ich den Ort nicht verlassen, ohne einmal durch den Pilgergarten mit tollen Fotografien geschlendert zu sein.

Die kraftvolle Sonne brennt bei direkter Einwirkung auf der Haut. Ich schaue auf die Stadt Lauzerte auf ihrer Anhöhe zurück und stelle mit einem Blick auf die Uhr fest, dass mein Plan, den Großteil der Tageskilometer vor Mittag zu absolvieren, nicht aufgehen wird.

In einem ständigen auf und ab marschiere ich durch die Gegend. Der Blick ist gesenkt und bereits ein wenig starr, und das nicht nur weil ich oft aufpassen muss, wo ich hintrete. Diese Temperaturen sind den Einheimischen zufolge nicht üblich für die Jahreszeit und kommen einer Hitzewelle gleich. Mehrmals in der Stunde muss ich nun eine Trink- und Verschnaufpause im Schatten einlegen. Die Hitze lastet auf dem Körper wie ein Gewicht, das zusätzlich zum Gehen deutlich an den Energiereserven zehrt.
Beschäftigt mit der Einteilung der eigenen Kräfte bringe ich den Sehenswürdigkeiten entlang des Weges nur noch wenig Aufmerksamkeit entgegen. Hier sieht man ein auf Stelzen stehendes Taubenhaus und einen schönen Hof.


Eine Gedankenspirale aus Erschöpfung und dem Frust, entgegen besserem Wissen nicht kürzere Strecken eingeplant zu haben, zieht mich abwärts. Ich frage mich jähzornig, warum ich mir diese Tortur antue und kann mir die Antworten doch nur selbst geben.
Wie das „rechte Wort zur rechten Zeit“ brauche ich heute die Chapelle Saint-Sernin und eine Viertelstunde Stille. Ich beruhige mich, ordne das erlebte ein und beginne, Schlüsse zu ziehen.

Ich spreche ein Wort des Dankes bewusst laut aus, schreibe einen Gruß aus Wien in das aufliegende Pilgerbuch und setze den Weg mit ganz neuen Gedanken fort.
Ein schmaler Pfad schneidet einen engen Korridor durch hohes Gras. Als ich die Risse im Erdboden bemerke, beginne ich, darüber zu sinnieren. Steckt dahinter nicht immer ein zugrundeliegendes Problem, eine aufgebaute Spannung, die nun sichtbar wird? Der Riss wird destruktiv verstanden, bricht er doch Geschaffenes oder zumindest bisher Bekanntes auf. Ob wir wollen oder nicht, Zerfallsprozesse gehören zum Leben dazu, entziehen sich letztlich unser Möglichkeit, einzugreifen. Ich glaube, auch in diesem Fall ist es gut, dass der Mensch keine Allmacht hat - so sehr wir sie uns vielleicht manchmal auch einbilden.
„Bedenke Mensch, dass du Staub bist…“

Denke ich an uns Menschen, dann drängt sich schnell das Bild der Wunde oder des Bruchs auf - jene Verletzungen, Risse, die nach außen hin blutig sichtbar sind und vor allem aber auch jene, die im Inneren an Psyche und Seele entstehen. Im Fall des aufbrechenden Bodens wird der nächste dringend erwartete Regen helfen. Nicht alle Risse lassen sich so einfach behandeln…
Ich entdecke Geflügelfedern, die auf den Feldern ausgebracht sind und frage mich, wozu das gut sein soll. Soetwas ist mir bisher noch nirgends aufgefallen.

Eau potable, Trinkwasserstellen, sind heute eher rar gesäht und mein Wasserverbrauch gleichzeitig hoch. Ich freue mich über die seltenen Wegstücke im Schutz des Blätterdachs wie auf dieser tollen Allee.

Letztendlich werden die letzten Kilometer zu einem harten Kampf und mein Gesichtsausdruck gibt nur der Kamera zuliebe den letzten Zweckoptimismus her.

Stur spule ich die letzten paar tausend Meter zum Hotel ab, wo ich mit Salzrändern im Gewand und ziemlich dehydriert ankomme. Eins ist sicher: morgen mache ich Pause! (Muss ich Pause machen…)
Zwei Packungen Elektrolyt-Pulver, langsam zugeführte einenhalb Liter Wasser und eine Dusche später liege ich am Bett und schlafe während des Fototransfers auf das Handy sofort ein.

Um 18 Uhr nutze ich die Gelegenheit und springe in das Pool. Das Körpergefühl im Wasser ist nach der Last des Rucksacks und der Sonne unbeschreiblich leicht.
Bei einem erwähnenswert guten Abendessen im Hotel plane ich die nächsten Tage und bin froh, eine sinnvolle Rückreisemöglichkeit gefunden und gebucht zu haben. Das ist mit dem öffentlichen Verkehr in Zentralfrankreich alles andere als einfach..
Kurz vor dem zu Bett gehen komme ich noch mit einem liebenswerten niederländischen Paar ins Gespräch. Sie sind auf dem Weg zu ihrem Ferienhaus in Spanien und haben beim Gespräch mit dem Senior-Chef mitgehört, dass ich auf dem Jakobsweg unterwegs bin. Das hat vor allem das Interesse von Marten (Bitte korrigiere mich im Kommentar falls ich es mir falsch gemerkt habe) geweckt, der vor etlichen Jahren gemeinsam mit einem Freund auch selbst auf dem Camino unterwegs war. Es ist ein sehr herzliches Gespräch, nachdem ich mit gutem Gefühl schlafen gehe.
Nachts brauche ich zwar einen Ventilator, doch das Ausschlafen bis 8 Uhr ist ein Hochgenuss. Mit dem Wissen, dass ich mir heute wirklich Zeit lassen kann, bleibe ich fast eine Stunde beim Frühstück sitzen.
Das Tagespensum an Bewegung beschränkt sich auf einen einstündigen Spaziergang hinunter zur Stadt Moissac. Erst beim Abstieg der ca. 80 Höhenmeter wird mir wieder bewusst, dass die Erhebungen des Zentralmassivs mit ihren westlichen Ausläufern, dem Lot-Gebiet und den Kalkplateaus nun endgültig enden. Soweit das Auge reicht liegt flaches Land vor mir - das ist in dem Ausmaß neu.
Eine ordentlich befahrene Zubringerstraße führt mich in das Zentrum von Moissac, wo ich trotz des heutigen Sonntags einen sehr belebten, großen Markt vorfinde. In der gekühlten Markthalle werden Fleisch und Fisch angeboten, auf dem Vorplatz alle Sorten Gemüse, Blumen, Brot und Käse, und weiter hinten Haushaltswaren, Kleidung und Handyhüllen.

Hier geht es ziemlich hektisch zu. Ich halte mich an alte Gewohnheiten und steuere auf die Kirche zu. Eine lange Straße mit zahlreichen kleinen Cafes führt direkt auf das große Eingangsportal hin.

Die Abtei zu Moissac wurde im 8. Jahrhundert erstmals erwähnt und war anfänglich stark mit Cluny im Burgund verbunden. Zur Hochzeit um das 12. Jahrhundert lebten (und arbeiteten!) hier etwa 100 Benediktinermönche. Leider endete das religiöse Leben in St. Pierre - Moissac mit der französischen Revolution und die Gebäude wurden 1790 als Nationalgut verkauft.
Die Kirche, in der ich etwas später noch den Gottesdienst besuche, stammt in der heutigen Form hauptsächlich aus dem 15. Jahrhundert. Ich finde es besonders schön, dass in der Mitte der Versammelten Sonntagsgemeinde, sozusagen mit allen gemeinsam, eine Taufe im Zuge der 11-Uhr Messe gefeiert wird.

Im Anschluss besuche ich den Teil des Klosters, der nicht dem Eisenbahnbau zum Opfer gefallen ist. Vor mir liegt ein unfassbar schöner Kreuzgang, der als eines der wichtigsten baulichen Dokumente romanischer Kunst gemeinsam mit der Kirche in die UNESCO Weltkulturerbeliste eingetragen ist.



Die Apostel, tragende Säulen der Kirche, werden in Moissac zu den Eckpfeilern des Kreuzgangs. 76 einzigartige Kapitelle schmücken die Säulengänge aus: die Hälfte davon tragen als Verzierungen verschiedene Episoden der Bibel, die übrigen weisen dekorativ auf die Schöpfung hin. Der Ort ist so beeindruckend, dass ich versucht habe, ihn aus mehreren Perspektiven einzufangen.


Im Pilgercafe bekomme ich einen Minz-Sirup zu trinken, erhalte den Stempel in meinem Pilgerpass und darf auf einer großen Landkarte meine Herkunft mit einem Post-It markieren. (Aus Wien war schon lange keiner mehr da…)
Im Anschluss sitze ich noch ein wenig mit den Damen zusammen, verstehe zwar nichts, werde aber dann trotzdem in die Pflicht genommen, ein Lied auf französisch mitzusingen.

Ich wechsle bis zur Übernahme der gebuchten Wohnung wieder auf den Hauptplatz, bestelle ein kleines Bier und beobachte, was ringsherum passiert.

Auf dem Weg zu der Wohnung passiere ich nochmals den Markt, wo bereits alles weggeräumt ist - ab 12.30 hält hier jeder die Füße still… Und die Einheimischen wissen genau warum. In den Nachmittagsstunden tue ich es ihnen gleich verstecke ich mich vor der Hitze, bin dankbar für die Waschmaschine und wasche alles, was ich im Rucksack mithabe.

Ich bereite mir eine große Portion Pasta zu und spaziere Abends noch eine kleine Runde zur Marienstatue hinauf.

Von hier hat man einen guten Ausblick über die Stadt und das flache Land dahinter, in das es mich die nächsten Tage ziehen wird.

Bleibt noch der Vollständigkeit halber die Wegstrecke von heute einzufügen.
Bonne nuit!

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