Alex kümmert sich in der Früh um die Gäste des Hauses. „I‘d serve breakfast at 5.30 am - but the bakery opens at 7“, sagt er, als wir erklären, dass wir möglichst früh starten wollen. Wir bekommen unser Trinkgeld in Müsliriegeln wieder retour und werden gegen 07.45 herzlich verabschiedet.
Der Pilgertag beginnt mit der Brückenquerung über den Lot, ein Fluss der uns über den Großteil der Etappe begleiten sollte. Im Hintergrund ist die Stadt Saint-Come d‘Olt zu sehen.

Der Lot hat sich im Laufe der Zeit tief in das umliegende Hochplateau geschnitten und grenzt das Aubrac-Massiv nach Nord-Osten hin ab. Bei unserem ersten Kontakt präsentiert sich der Fluss wasserreich und die Ufer eher natürlich als allzu grob reguliert.

Schon bald führt uns die Streckenführung des GR 65, dem wir weiterhin folgen, auf einen Hügel hinauf. Von hier aus schauen wir auf das Aubrac-Gebiet zurück und sehen im Lottal die rotbraunen Ackerflächen liegen.

Auf dem selben Hügel durchwandern wir einen ehemaligen Vulkankegel, der eine Ähnlichkeit mit einem Steinbruch hat, und erinnern uns an die frühe geologische Geschichte des gesamten Zentralmassivs.

Wenig später erreichen wir einen Aussichtspunkt, von dem wir, wie die Marienstatue, einen grandiosen Ausblick auf das Tal und die Stadt Espalion haben.

Am südöstlichen Rand der verhältnismäßig großen Stadt erreichen wir die Perserkirche aus dem 11. Jahrhundert. In dem roten Sandsteinbau soll der Heilige und Märtyrer Hilarius von Espalion während einer Messe von sarazenischen Besatzern geköpft worden sein (Darstellungen zeigen ihn, wie er seinen Kopf in Händen trägt).

Der Innenraum des Gotteshauses trägt einen spürbar (besonders) alten Pathos. Mit dem Wissen um die brutale Geschichte aus dem Jahr 793 n.Chr. stellt sich ein eigenwilliges Gefühl ein.

Vorbei an der Kajakstation folgen wir dem Lot bis das Zentrum der Stadt in Sichtweite gerät. Wer genauer hinschaut, erkennt eine metallerne Farbpalette und einen Pinsel im Bildvordergrund - die Anspielung ist durchaus treffend gewählt: Das historische Zentrum der Stadt und die alte Brücke über den Lot sehen aus wie gemalt.

Wir folgen den am Boden aus Messing eingelassenen Jakobsmuschelzeichen und stehen Minuten später überrascht auf einem großen Markt. Es duftet nach allerlei Geschmäckern und sofort kommt Hunger auf. Vor der Patisserie treffen wir auf den jungen Pilger Simon (ja, wir wundern uns beide), dem es mit dem aufgekommenen Gusto genauso geht.

Hinter dem Gewusel des Wochenmarktes holen wir uns bei der Touristeninformation einen Pilgerstempel und wollen die Stadt schon verlassen, als uns einfällt, die von weitem sichtbare Kirche vergessen zu haben.

Ich bin froh, dass wir wieder umgekehrt sind. Der riesige Sakralbau ist leer und beschert und eine willkommene Pause von dem aufgeheizten Klima draußen.

Am Stadtrand trennen wir uns wieder für eine Weile und jeder folgt seinem eigenen inneren Rhythmus. Besonders um die Mittagszeit laden die auf Pilger ausgerichteten Jausenstationen zur Rast ein.

Im folgenden Abschnitt gehe ich einer größeren Gruppe Pilger voraus und bemerke erst recht spät, dass ich offenbar eine Abzweigung verpasst habe. Die Situation ist uns allen bekannt: Einer geht vor, alle gehen wie die Schafe nach. Ich entscheide für mich, dass es zu spät ist, umzukehren und die Richtung ohnehin „ungefähr passt“. Erstaunlich, wie lang ich mit meinem Gewissen hadere: Muss ich mich bei der nächsten Wasserstation bei den anderen entschuldigen?
Etwa 40 Minuten dauert meine Wegabweichung, von der ich später erfahre, dass es die Umgehung einer ohnehin schwierigen Wegpassage ist.
Heute wird wieder deutlich, dass der Frühling Fahrt aufgenommen hat. In der Ebene, die ich nun erreiche, hat der Kies auf dem Forstweg förmlich zu glühen begonnen und sowohl von unten als auch von oben wirkt die hohe Temperatur auf mich ein.

Abhilfe verschafft ein liebevoll gepflegter, schattiger Garten, wo ein Pensionist freundlich Getränke und kleine Speisen anbietet. Hier lasse ich mich in einen gemütlichen Gartenstuhl sinken, bestelle einen Kaffee und schließe die Augen. Der Hauch einer Brise Wind und der Geruch von verschiedenen Pflanzen sind eine Wohltat.
Während ich auf Julia warte, trifft Simon ein, fragt höflich beim Gastgeber, ob er seine eigene Jause hier essen darf und gesellt sich dann zu mir an den großen Steintisch. Er erzählt mir, dass er in einer Hängematte schlafe und meistens gut damit zurecht komme - nur in den Bergen sei es doch schwierig gewesen.

Nachdem Julia aufgeholt und wir wieder gemeinsam auf dem Weg sind, berichtet sie, dass ihr zwischenzeitlich ähnliche Orientierungsfehler passiert seien. Sie allerdings habe eine Alternativroute zum Originalweg zurück genommen und sich dabei sowohl zusätzliche Kilometer als auch Höhenmeter eingebrockt.
Von den steigenden Temperaturen ausgelaugt und hungrig erreichen wir die Kleinstadt Estaing am Lot.

Ähnlich wie zuvor handelt es sich wieder um eine Stadt mit gut erhaltenem mittelalterlichen Ortskern. Wir weichen von der Jakobswegroute ab, passieren die Brücke und spazieren an den alten Häusern bis zur Kirche entlang.


Der Versuch, etwas für ein Picknick zu besorgen gelingt nur mäßig. Zwischen 12 und 15 Uhr halten die Geschäfte in den kleineren Ortschaften meist eine Mittagspause ein und so bleiben wir auf Knäckebrot und Pastete sitzen.
Der Blick auf die Uhr drängt uns zum Aufbruch: noch 14 Kilometer liegen bis zum Etappenziel in Golinhac vor uns - und auch Höhenmeter wollen bezwungen werden.
Wir folgen dem Lot mit etwas Abstand auf eine Asphaltstraße und vertiefen uns in ein Gespräch zu den Begriffen „Schuld“ und „Sünde“, auf das ich zu späterem Zeitpunkt eingehen möchte.

Der Weg nach oben ist steil und verlangt uns viel Kraft ab. Oben angekommen sind die Beine spürbar schwer und wir sind dankbar für den Schatten, den vor allem die Kastanienbäume uns spenden.

Am Ende des Tages kommt eine Strecke von beinahe 36 Kilometern und vielen Höhenmetern zusammen (Julia hat durch ihre Routenwahl noch größere Zahlen gesammelt). Um ehrlich zu sein: Lustig war es die letzten 2 Stunden nicht mehr. Als wir darüber sprechen, stimmen wir überein, solch brutale Märsche in Zukunft vermeiden zu wollen.

Auf dem Hauptplatz von Golinhac warten wir darauf, von unserem Gastgeber Philippe abgeholt zu werden und haben ein kurzes, aber sehr nettes Gespräch mit einem Ordensbruder, der bei der Verabschiedung sagt, für uns beten zu wollen. Welch tolle mitmenschliche Fürsorge, denke ich mir.

Zum Abendessen treffen wir eine Handvoll weiterer Gäste, darunter einige Franzosen und zwei lustige EU-Diplomaten aus Brüssel. Einer davon erzählt, wie er damals am EU Beitritt Österreichs mitgearbeitet hat und im Zuge dessen in Wien zu Besuch war.
Unbedingt erwähnt gehört außerdem das ganz besonders gute Gulasch vom Aubrac-Rind, das Philippe zubereitet hat. Der Mann ist unglaubliche 71 Jahre alt, kümmert sich rührend um seine Gäste und praktiziert obendrein weiterhin als Tierarzt.

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