Der Wecker um 07.30 kommt nach den letzten beiden Tagen einem „Ausschlafen“ gleich. Für mich ist die Nacht trotzdem irgendwie zu kurz, zu warm - jedenfalls fühle ich mich schon beim Aufstehen müde.
Gegen 09.00 Uhr machen wir uns auf den Weg und verlassen das Bergdorf Aubrac, wo gerade Festzelte aufgebaut werden. In wenigen Tagen feiert man hier den großen Almauftrieb. Bereits nach wenigen Schritten ergibt sich ein gigantischer Ausblick auf das Gebiet das vom Aubrac-Hochland westlich vor uns liegt.

Mit über 1.200 Höhenmetern Abstieg verlassen wir nun also das Hochland, an dessen Weite, steppenartige Landschaft und Wind ich mich erinnern werde. Bewusst haben wir eine kürzere Etappe eingeplant, um dem Körper wieder etwas mehr Regenerationszeit zu geben.

Auf gut designten Informationstafeln kann man wissenswertes über die geologische Vergangenheit erfahren - wenn man Französisch beherrscht. Wir verändern die Länge unserer Wanderstecken für den langen Abstieg um die Knie ein wenig zu schonen und beginnen etwas wehmütig hinunterzusteigen.

Mit jedem Schritt Richtung Tal nehmen Luftfeuchtigkeit und Temperatur zu. Es dauert nicht lange, bis die Westen ausgezogen und die Hosenbeine abgezippt sind. Zugute kommt uns heute außerdem eine zeitweise dichte Bewölkung und die Wegführung durch große Mischwälder.

Immer wieder bietet sich auf dem Weg hinab ein beeindruckender Fernblick auf das Tal des Flusses Lot, der uns auf den folgenden Etappen noch begleiten sollte.

Böse Zungen meinen, es könnte auch am Wein des gestrigen Feierabends liegen - ich fühle mich müde und bemerke das auch an meinen unachtsamen Tritten auf den teilweise steinigen und schwierigen Wegen ins Tal.

Als wir das Dorf Saint-Chely-d‘Aubrac erreichen ist es bereits 11 Uhr und die Sonne steht hoch. In der Trafik/Bar/Cafe neben dem Rathaus trinken wir einen Kaffee. Unter „cafe“ wird hier, wie in Italien, der Espresso verstanden - allerdings wird er „expresso“ genannt und wird letztlich ein wenig „verlängert“ serviert. Ich mag die kurzen Pausen bei einem „cafe“ im Dorfbeisl.
Nach der willkommenen Unterbrechung setzen wir die Wanderung fort und betreten die „Pilgerbrücke“, die im heutigen Zustand aus dem 16. Jahrhundert stammt und als UNESCO Weltkulturerbe eingetragen ist.

Als wir auf der gegenüberliegenden Hangseite hinaufsteigen, haben wir beim Friedhof nochmals einen schönen Blick über das Dorf. Dabei fällt uns auf, wie einheitlich das Ortsbild wirkt. Selbst beim Friedhof sind beinahe alle Gräber mit einem gleichfarbigen Stein gedeckt. Wird wohl daran liegen, dass das gesamte Material aus dem selben Steinbruch stammt, denken wir uns beim weitergehen.

Im Laufe des frühen Nachmittags steigen wir auf unterschiedlich steilen Wegen weiter ins Tal ab. Auf den Weiden liegen die schönen Aubrac-Rinder samt ihrer zahlreichen, wirklich außergewöhnlich herzigen Kälber in der Sonne und halten Siesta.

Ich schlage mich mit meiner Müdigkeit durch die schwere Luft im Tal und erkämpfe die letzten anfallenden Höhenmeter. An Julia scheint die Belastung der letzten Tage keine deutlichen Spuren hinterlassen zu haben - was mich doch ein wenig wundert und staunen lässt. Endlich sehen wir die Kleinstadt Saint-Come-d‘Olt auftauchen.

Es tut sehr gut, bereits um 15 Uhr geduscht zu sein und wenig später die Beine hoch zu legen. Sobald genug getrunken und ein wenig gegessen ist, spazieren wir durch den Ort, der es in die Liste der „Schönsten Dörfer Frankreichs“ geschafft hat. Tatsächlich ist das mittelalterliche Flair der Stadt, dessen Kern man durch eine der drei Stadttore betritt, wunderschön erhalten geblieben.

Beim Gang um das Rathaus (Mairie) fallen mir die Feigenbäume und die Kletterrose auf. Dieser Platz ist unwirklich schön!


Gleiches gilt für die Kirche Saint-Come-et-Saint-Damien aus dem Jahr 1522, deren reich verziertes Eingangsportal im Renaissancestil in der Spätnachmittagssonne leuchtet.


Ein Dank gilt heute an Julia, die mich hartnäckig an das Trinken und Essen während des Gehens erinnert hat, und an unsere jungen Gastgeber Vivien und Alex, die in ihrer Herberge eine Wohlfühlatmosphäre erzeugen. Beim Abendessen, das sie ebenfalls selbst gekocht haben, lernen wir die beiden weiteren Gäste kennen und haben ein nettes Gespräch. Die gebürtige Spanierin und ihr niederländischer Lebensgefährte sind samt ihrer Katzen auf dem Weg von Paris in ihr Ferienhaus südlich von Barcelona. Eine schöne Art, die Pension zu verbringen, denke ich mir…
Gedanken, die mich bewegen nach den vielen Etappen an denen ich schon teilnehmen konnte.
Immer wieder lese ich von der Gastfreundschaft- also die Liebe zum Fremden.
Für mich ist es einfach ein Akt der Großzügigkeit und hat schon immer versucht, die Unterscheidung in gute und schlechte Gesellschaft nicht treffen zu müssen. Gerade bei so einer großen Weltenwanderung ist so eine Gastfreundschaft unbedingt wichtig, unabhängig davon, wer von seinem " Besuchsrecht" gerade Gebrauch macht.
Und wenn ich versuche, die Bibel nur ein bisschen zu verstehen, so komm ich rasch zu Erkenntnis," seit jeher hat niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht, als der andere" .
Genau das verstehe ich aber unter dem Prinzip GASTFREUNSCHAFT.
Liebe Grüße Hermann Exenberger