In unserer Hirtenbehausung ist es anfangs recht warm, frühmorgens ein wenig kalt gewesen - insgesamt war die Nacht aber komfortabler als gedacht (was vor allem an der recht guten Matratze gelegen haben dürfte).
Nach dem gemeinsamen Frühstück um 7 Uhr sind wir die ersten, die aufbrechen. Das Tagespensum, das wir uns vorgenommen haben ist groß. Voller Tatendrang sind wir gleich zu Beginn ein wenig unvorsichtig und biegen im Wald falsch ab. Gottseidank sind wir bald wieder auf der beschilderten Route und wandern weiter über die gestern beschriebene Hochebene.

Wir kommen gut voran und erreichen nach etwa einenhalb Stunden den höchsten Punkt der Etappe (ca. 1300m), wo eine taufrische Waldwiese vor uns liegt.

Hinter dem Wald queren wir eine große Freifläche und kommen bei einer großen, schön gelegenen und vielfach empfohlenen Herberge vorbei, die gestern leider schon ausgebucht war.

Für ein kleines Stück gehen wir die Landstraße entlang und erfahren anhand eines Grenzsteines, dass wir das Departement Haute-Loire verlassen und nach Lozere kommen. Direkt dahinter steht die Chapelle Saint-Roche.


Hier entscheiden wir uns, einige Kilometer getrennt zu gehen, um sich alleine und ohne Ablenkung auf den Gedankenfluss des konstant langsamen Fortbewegens einlassen zu können. Anfänglich spielt sich ein bekanntes Gedankengewitter ab, doch schon bald kehrt Ruhe ein und die Dinge beginnen sich zu ordnen. Schritt für Schritt, Gedanke für Gedanke - jegliche Hast ist zwecklos.

Ich passiere diese Brücke aus gigantischen Steinblöcken und muss wieder an die Bedeutung von Brücken denken - wie ich es schon so oft auf diesem langen Weg getan habe.

Ein lichter Nadelwald umgibt mich und Totholz liegt herum. Während ich noch versucht bin, diese teilweise steppenartige Landschaft mit anderen Plätzen zu vergleichen, fällt mir auf, wie heiß es inzwischen geworden ist. Ich lege eine Trinkpause ein, mein Wasser geht dabei zur Neige und ich beginne mich nach dem nächsten öffentlichen Wasserhahn umzusehen.

Am Ortseingang nach Saint-Alban-sur-Limagnole, das in vielen Wegführern als Etappenziel empfohlen wird, liegt das Schloss der Familie Apcher, in dem sich heute eine psychiatrische Klinik mit bis zu 600 Patienten befindet. Als ich daran vorbeikomme, denke ich über den früher gebräuchlichen Namen der „Nervenheilanstalt“ nach. Die Bezeichnung ist mir ziemlich zuwider. Einerseits, weil eine „Anstalt“ eine gefängnishafte Assoziation hervorruft, und andererseits, weil der Begriff suggeriert, man könne die Nerven, als das physisch greifbare Problem behandeln.
Am Hauptplatz von Saint-Alban-sur-Limagnole sitzen bereits einige Pilger beim Essen. Ich besuche die Kirche mit ihren, für die Gegend typischen Glockenarkaden, und treffe dann Julia wieder.

Ich bin gespannt, wie sie die letzten Stunden des alleine-gehens empfunden hat und schnell entwickelt sich ein angeregtes Gespräch darüber. Es ist faszinierend, wie unterschiedlich die Beobachtungen und Eindrücke zweier Menschen zu dem gleichen durchwanderten Gebiet sein können, obwohl wir doch nur 10 Minuten Abstand gelassen hatten und sich also eigentlich nicht viel verändert haben kann.
Heute treffen wir erstmals seit Le Puy deutlich häufiger auf Gleichgesinnte. Gewisse Plätze, so wie dieser hier auf einer Hügelkuppe, wecken bei uns allen den gleichen Gedanken: Zeit für eine Trinkpause!

Im Verlauf des Nachmittags, den unsere Körper trotz der langen Distanz überraschend gut durchhalten, ändert sich die Landschaft allmählich. Immer wieder äußere ich den Eindruck, dass es „südländisch“ aussieht - was nicht nur an der heutigen Tagestemperatur liegt.

Selten kam es in den letzten Tagen vor, dass wir überholt wurden. Noch ungewöhnlicher ist das Gepäcksgefährt, das diese beiden mit sich führen - eher: hinter sich herziehen. Ich hätte den Herrn gerne gefragt, ob wir für einen Kilometer Rucksack und Rollgestell tauschen wollen, doch leider sprechen wir zu wenig Franzöisch und er zu wenig Englisch.

In einer Senke queren wir die Ortschaft La Truyere, die ein besonders altes Ortsschild aus Email ziert.

Die letzten Kilometer auf der kargen Hochebene werden zu einer Ausdauer- und Willensprobe. Ich gebe es ganz ehrlich zu: Alles nach Kilometer 35 verlangt schon ziemlich viel Biss. Respekt, dass du das auch so durchhältst, Julia!

Müde erreichen wir Aumont-Aubrac gegen 17 Uhr, nach punktgenau 8 Stunden reiner Gehzeit. Ich würde gerne schreiben, dass das kühle Bier bei der Ankunft geschmeckt hat… doch es war ein Heineken.
Gottseidank gilt gegenteiliges für das große Stück Lasagne, das wir uns als Abendessen heute sehr verdient haben.

Lieber Simon,
38 KM ; 8 Stunden Gehzeit, welche körperliche Leistung!
Wer geht, kann mehr sehen und bewegt sich so sparsam fort, dass er noch Energie übrig hat- für so wunderbare Etappen- Beschreibungen. D A N K E wiederum.
Denken, Fühlen und Wahrnehmen sind keine rein geistigen Prozesse, sondern auch sehr körperliche.
Weil Du heute Geburtstag hast geschätzter Simon, möchte ich Dir sehr herzlich gratulieren und am Morgen wünschen, dass diese weitere Etappe für Euch nicht allzu schwierig wird.
Besonders schöne Wünsche und alles Gute aus der Wexstraße Wien 1200
dein Opa