Heute beginnt (samt einem neuen begleitenden Wegführer) die Via Podiensis, das heißt, der Weg von Le Puy bis nach Saint-Jean-Pied-de-Port an der spanischen Grenze. In diesem Taschenbuch lesen wir, dass viele Pilger Le Puy-en-Velay als Ausgangsort für ihre Pilgerreise wählen, dass die meisten davon am Wochenende anreisen und auch zu gehen beginnen. Nachdem wir nur ein mal die Möglichkeit haben, stehen wir früh auf und besuchen die Messe in der Kathedrale um 7 Uhr. Schon beim Betreten der Kirche staunen wir. Mit bis zu 50 Pilgern hätte ich nach den Eindrücken aus den letzten beiden Tagen durchaus gerechnet, nicht aber mit vollen Bänken.

Unser Eindruck deckt sich: Obwohl die Altersgruppe der 50-70jährigen wohl am stärksten vertreten ist, mischen Jugendgruppen und einige junge Paare mit Kindern den Gesamteindruck erfrischend auf. Wir lauschen den schönen Klängen der französischen Sprache während der Messe und ich male mir aus, wie es aussehen könnte, wenn sich diese große Menschengruppe prozessionsartig in Bewegung setzt.
Nach der Messe erkundigt sich der Priester nach der Herkunft der Pilger (Argentinien bis Texas) und spendet anschließend einen besonderen Segen für die Fußreise.
Plötzlich öffnet sich das Gitter im Boden und gibt die Treppe zur gestern beschriebenen Treppe des Westportals frei. Alle Reisenden erhalten eine kleine Silbermuschel als Erinnerung und dürfen die Kathedrale über den besonderen Ein- und Ausgang verlassen.

Die Straßen der Altstadt sind noch leer, aber bereits sonnendurchflutet als sich das Kollektiv der Pilger langsam auf den Weg begibt. Ein jeder hier tritt eine Reise an, aus unterschiedlichen Gründen und Zielen und auch ganz unterschiedlichen Voraussetzungen. Man wünscht sich in einer freudigen Aufbruchstimmung „Bonne Route!“ „Bonne Courage!“ oder „Bonne Chemin!“.

Zur heutigen Tagesetappe: Von Le Puy aus wandern wir durch das Vulkanhochland Velay westwärts und haben das Dorf Monistrol in der Allierschlucht als Ziel.

Schon nach wenigen hundert Metern wird klar, dass das zu passierende Umland viel mehr auf die Pilger des Jakobswegs eingestellt ist. Große Informationstafeln zeigen, wo die jeweilige Infrastruktur zu finden ist, höher ist die Dichte an Rastplätzen und Toiletten am Wegrand, und sogar auf den Straßen sind Hinweise für die Autofahrer auf den Asphalt gemalt.

Eine Stunde hinter Le Puy treffen wir auf einen freundlichen und unterhaltsamen Franzosen, der uns (auf Deutsch!) die Empfehlung gibt, vom Hauptweg abzuweichen und die historisch auf die Kreuzzüge zurückführende Alternativroute über die Stadt Bains zu wählen. Er scheint recht persönlich enttäuscht, dass die Streckenführung vor wenigen Jahren geändert wurde und stellt in den Raum, dass es mit der Geldgier einer Bürgermeisterin im Nachbarort zu tun habe. Als wir wenig später zu der entsprechenden Wegkreuzung kommen ignorieren wir ein explizites Hinweisschild, nicht vom offiziellen Weg abzuweichen und folgen dem Rat unseres lustigen französischen Freundes.

Leider ist die Alternativroute tatsächlich nicht allzu gut beschildert und mit den heute zunehmenden Schmerzen in der Schulter sinkt die Frustrationsschwelle leider rasch. Abhilfe verschafft eine ausgedehnte Jause bei der Ortskirche von Bains.
Wir lassen Bains hinter uns und wandern durch die Felder auf den Weiler Fay zu. Die Streckenführung geht zurück auf die Via Bollena aus römischer Zeit, auch wenn davon heute nicht mehr viel zu sehen ist. An manchen Orten liegen Basaltfelsen frei und zeugen von der vulkanischen Vergangenheit des Velay.

Fruchtbare Böden rötlich gefärbter Erde liegen um uns. Der vom Regen der letzten Tage aufgeweichte Weg ist angenehm zu gehen und führt und bei gemächlicher Steigung durch eine beinahe almenhafte Landschaft bis wir in der Nähe des Lac de l’OEuf (dt. Ei-See) mit ca. 1200 Metern den höchsten Punkt der Etappe erreichen.

Sobald wir den Wald verlassen haben, bietet sich ein Ausblick auf das schluchtartige Tal, das der Fluss Allier hier in die Landschaft gegraben hat.

Mit dem wechselnden geologischen Untergrund ändert sich auch die Farbe der Steinfassaden, die die Ortsbilder deutlich prägen. Mir gefällt diese rohe Struktur. Insbesondere dann, wenn sie mit modernen, großen Glasflächen als Fenster, Terrassentüren oder Wintergärten kombiniert wird. An einer Hauswand im Dorf Le Chier sind verschiedene Steine zu einer bunten Mischung geworden.

Das Wetter bereitet uns heute einen jener Tage, an denen man sich häufig an- und wieder ausziehen muss. Je nachdem, ob man gerade eine sonnige oder schattige, windige oder ruhige Passage durchwandert. Über einen steilen Pfad kommen wir zu einer alten Mühle, übersetzen einen kleinen Bach und gleich darauf haben wir einen ersten Blick auf das Dorf Saint-Privat-d‘Allier, dessen Kirche samt Nebengebäuden wie eine Festung malerisch auf einem Felsen thront.


Der Ort ist mit 24 Kilometern ab Le Puy für viele Pilger das Ziel der ersten Etappe. Entsprechend viele Unterkünfte werden auch mit Hinweistafeln beworben.
Julia und ich steigen zur Ortskirche hoch und sind von dem Gebäude und den umliegenden Gartenanlagen beeindruckt. Die Entstehung des Sakralbaus geht angeblich auf das 7. Jahrhundert zurück.



An diesem schönen Ort halten wir Rast und wundern uns ein wenig, wo die vielen anderen Pilger geblieben sind, die wir in der Früh in der Kathedrale gesehen haben. Seitdem wir auf unsere Alternativroute abgebogen sind, haben wir nur noch vereinzelt Gleichgesinnte getroffen.
Die übrige Strecke zum Etappenziel beträgt etwa 7 Kilometer, führt uns der Anhöhe entlang und schließlich ins Tal hinunter.

Die Pfade abwärts sind steinig und oft mit Vorsicht zu begehen. An einer Stelle kommt uns plötzlich eine Gruppe Motocrossfahrer entgegen - ich muss sagen, dass ich dafür, und insbesondere für die Beschädigung der Gehwege ziemlich wenig Verständnis habe.

Bevor es endgültig ins Tal hinunter geht, kommen wir an der Chapelle Saint-Jacques vorbei. Die Steinkapelle aus dem Jahre 1328 liegt am Rande eines Felsens, der zu einem ehemaligen befestigten Außenposten des Velay Gebietes gehörte. Von der Wehranlage ist nur noch ein teils verfallener Turm übrig, auf dem heute Ziegen herumturnen.


In der Nähe eines großen Umspannwerks und eines Wasserkraftwerks liegt der Ort Monistrol-d‘Allier. Es gibt hier zwar keinen schmucken Ortskern oder Hauptplatz, dafür überraschenderweise aber eine Bahnstrecke. Rasch ist die gestern reservierte Pilgerherberge gefunden, mit dem äußerst sympathischen Besitzer eine Nächtigungspauschale vereinbart und das zweckmäßige Zimmer bezogen.

Bei einem vorzüglichen Abendessen lernen wir ein Pärchen aus der Normandie kennen, die mit einem 5 Monate alten Baby unterwegs sind, sowie Julien, einen Bäckermeister im Sabbatical-Jahr, der mit seinem Zelt aus der Stadt Cluny in Frankreich aufgebrochen ist. (Heute genießt er zum zweiten Mal in 4 Wochen eine warme Dusche, ansonsten muss das Flussbad reichen…)
Und ja: einen dieser grünen Liköre haben wir auch gekostet… keine weiteren Fragen, wir werden gut schlafen ;)
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