Beim heutigen Frühstück treffen wir auf die Pilgerin Sabine aus Bayern, deren Einträge wir in den Kirchenbüchern bereits mehrere Tage nachverfolgt haben. Das Tagesziel ist für uns alle klar: heute erreichen wir die wichtige Pilgerstadt Le Puy-en-Velay.

Zur Stadt selbst möchte ich später in diesem bildreichen Beitrag ein paar Worte verlieren - zunächst geht es darum, den Ort überhaupt zu erreichen.

Wer nun, so wie wir, ein Tagespensum von über 30 Kilometer gewohnt ist, denkt, dass es sich bei 20 Kilometern eigentlich um einen ruhigen, einen quasi halb so anstrengenden Wandertag handeln wird. Die windig-kalten Verhältnisse und die inzwischen entwickelte Müdigkeit spüren wir heute allerdings ziemlich deutlich.

Auf halber Strecke erreichen wir das Dorf Saint-Germain-Laprade und lassen uns beim Besuch der Kirche von unseren körperlichen Wehwehchen ablenken. In der Steinkirche aus dem 12. Jahrundert herrscht eine mystische Lichtstimmung (deutlich dunkler als auf dem Foto).

Wir verlassen die Ortschaft und steigen einige Meter zum Hügel Montjoie (dt. „Berg der Freude“) hinauf. Von dort sollten wir, dem Wegführer zufolge, einen ersten schönen Ausblick auf Le Puy haben - doch heute ist das Wetter dafür zu schlecht.
Im Tal angekommen stoßen wir relativ unerwartet auf einen der größten und bekanntesten Flüsse Frankreichs. Die Loire entspringt unweit von hier im Zentralmassiv und fließt auf einer Strecke von über 1000 Kilometern zunächst bis Orleans nach Norden und anschließend über Tours und Nantes in den Atlantik. In unmittelbarer Nähe von Le Puy-en-Velay mündet der Fluss LaBorne von der Stadt kommend in die Loire.

Die Begehung dieser schönen Fußgängerbrücke ist einladend, führt uns allerdings vom Hauptweg weg. Erst als wir uns auf der gegenüberliegenden Flussseite umsehen und keinerlei gelbe Muschelzeichen den Weg weisen, wird klar, dass wir umdrehen müssen.
Die Ankunft in Le Puy gestaltet sich von da an eher unspektakulär. Die notwendige, aber wenig schmucke Infrastruktur am Rand einer größeren Stadt muss passiert werden, anschließend das Sportstadion und Einkaufszentren. Wir folgen dem Fluss LaBorne bis kurz vor das Zentrum der Stadt, von dem lange nichts zu sehen ist, da es hinter zwei Hügeln liegt. Auf den letzten Kilometern zeigt sich außerdem sehr unangenehm, wie sehr ich die Etappe unterschätzt habe: Ohne Jause falle ich in ein spürbares Energiedefizit, fühle mich schwummrig und alles andere als wohl. Ein großes Stück Schokolade und Haferkekse helfen mir aus dem Loch, und wir entscheiden uns, die am Weg liegende Kirche Saint-Michel-d‘Aiguilhe zu besichtigen. Auf einer schmalen, fast senkrecht aufsteigenden Vulkannadel steht hier eine ganz kleine Kirche, die dem Erzengel Michael geweiht ist. Ein aufwendig gestaltetes, modernes Museum informiert über die jahrhundertealte, menschliche Kulturgeschichte und jahrtausendealte geologische Geschichte.

Draußen pfeift der Wind über die Stadt, im Inneren des Gotteshauses herrscht eine faszinierende Stille. Große Demut stellt sich angesichts des Alters dieses ganz besonderen Ortes ein.


284 Stufen steigen wir abwärts, um von dem Vulkanfelsen wieder herunter zu kommen.
Eine stilvolle Wohnung mit Blick über die Stadt erwartet uns ganz im Zentrum. Für nur 62€ ist es eine günstige Unterkunft in Top Lage und Qualität - für das Heraussuchen bedanke ich mich bei Julia.
Während die Wäsche sich in der (ebenfalls inkludierten) Waschmaschine dreht und ich inzwischen geduscht auf dem Sofa liege, ist es bereits nach 16 Uhr. Körperlich fühle ich mich ausgelaugt und müde. Es wäre um das Erlebnis schade, sich rasch durch die bedeutsame Wallfahrtsstadt zu schleppen. Folgerichtig entscheiden wir gemeinsam, eine Pause einzulegen und einen weiteren Tag in Le Puy-en-Velay zu verbringen. Es reichen wenige Schritte zum nächsten Supermarkt, um einen Abend mit selbstgekochter Pasta, Rotwein und viel „Beine hoch“ einzuleiten.
Das weckerlose Ausschlafen tut sehr gut. Gegen 11 Uhr schlupfen wir in unsere Schlapfen (bzw. Erholungsschuhe - danke Wolfgang!) und mischen uns in das Samstagsgetümmel der Stadt. Märkte verleihen einem Platz ein tolles, vitales Flair, finde ich. Es wird gesprochen, gerufen, verhandelt und gelacht. Allerlei frische bis hin zu verstaubten Waren gibt es zu kaufen, die Menschen treffen sich, stirdeln herum - kurzum: es ist immer etwas los.

Heute machen wir es uns einfach. Wir holen einen Stadtplan samt eingezeichneter Spazierroute und lassen uns durch die Stadt treiben. Am Place du Breuil sind Sportbahnen aufgebaut, denen wir uns neugierig nähern. Verschiedene Mannschaften haben sich eingefunden, um ein offizielles Boule-Turnier auszutragen. So etwas habe ich auch noch nie gesehen.

Langsam kommt die Sonne heraus und wir genießen es, während wir durch einen hübschen Park in der Nähe des Museumsgebäudes spazieren.

Enge Gassen führen uns an allerlei Geschäften und Lokalen vorbei immer steiler ansteigend in Richtung der Kathedrale Notre-Dame de Le Puy. Es wird vermutet, dass der Mont Anis, auf dem sich die Wallfahrtskirche heute befindet, bereits vor weit über 2000 Jahren ein Zentrum keltisch-heidnischen Kultes gewesen sein könnte.
Wir gehen den steilen Weg hoch und stehen dann vor einem gigantischen Stufenportal und der Westfassade der Kathedrale.

Steil ansteigend und mit immer kleiner werdenden Hochportalen steht man schließlich vor einem Tor, das nur zu Messzeiten geöffnet wird. Durch diese schmale Öffnung betritt man, klein und demütig, Christus in seiner Menschwerdung nachempfunden, den Chorraum. Diese außergewöhnliche Anlage ist einzigartig und besitzt eine starke Symbolik.

Unter dem hier verschlossenen Gitter liegt die Zutrittspforte vom Stufenportal der Westseite.

Die Kirche selbst ist der Muttergottes geweiht. Sowohl im Hauptschiff als auch in einer Reliquienkapelle wird eine schwarze Madonna verehrt. Überall in der gesamten Anlage, ich möchte fast sagen, der gesamten Stadt, findet man zudem die Jakobsmuschel als Hinweis auf die große Pilgertradition.

Hier ist er also, denke ich, als wir den Mont Anis zur Madonnastatue hinaufsteigen: der Beginn des historischen Jakobsweges. Von hier aus machte sich Bischof Godescale im Jahre 951 nach Christus auf den Weg nach Santiago de Compostella, zum Grab des Apostels Jakobus, und löste mit seiner Pilgerreise eine bis heute andauernde Tradition aus.
Gemeinsam rechnen wir die Kilometer zusammen und finden heraus, dass ich bis hierhin etwa 1695 Kilometer ab Wien gegangen bin. Da „nur“ noch etwa 1530 Kilometer auf dem Weg nach Santiago vor uns liegen, haben wir die Hälfte der Strecke in den vergangenen Tagen bereits unwissentlich überschritten. Mit dem Ende der Via Gebennensis, dem Weg von Genf bis le Puy-en-Velay und mit dem Beginn des historischen Jakobsweges ist diese Stadt ein großer persönlicher Meilenstein, deren Bedeutung nun langsam zu mir durchsickert.

An der Spitze des Lavafelsen Corneille steht die 16 Meter hohe, rosarote Marienstatue Notre-Dame-de-France, die aus 213 im Krimkrieg erbeuteten russischen Kanonen gegossen und 1860 eingeweiht wurde. Das Innere des Monuments ist begehbar und so ist es tatsächlich möglich, von der Krone der Statue auf die Stadt herabzuschauen.


Hier oben ist außerdem das Titelbild des heutigen, verlängerten Beitrags entstanden.
Voller Begeisterung, über das was wir gesehen haben, setzen wir uns in das Pilgercafe nahe der Kathedrale und schreiben Postkarten an unsere Lieben zu Hause. Im Anschluss besichtigen wir den Kreuzgang des Klosterkomplexes, der zu Hochzeiten der Pilgerbewegungen immer wieder vergrößert wurde.


Die “Kapelle der Toten“ ist ein weiterer geschichtsträchtiger Ort, der zu Demut aufruft. Hier wurden während der französischen Revolution die Verstorbenen des Klerus verabschiedet.


Dankbar für alles, was wir hier erleben dürfen und auch dankbar für die gestrige Entscheidung, hier geblieben zu sein schlendern wir wieder vom Berg herunter. Wir lassen uns auf der Zuschauertribüne nieder, holen eine Portion Pommes und schauen uns das „Grand Finale“ des Boule Turniers (das sogar live im Fernsehen übertragen wird) in der Abendsonne an.
Der nächste Abschnitt dieser langen Reise kann nun kommen!

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