Gestern Abend haben wir noch einen Plan für die kommenden beiden Tage bis zum Zwischenziel Le Puy-en-Velay besprochen. Wir haben uns dabei für den heutigen Tag 30 und für den Folgetag 20 Kilometer vorgenommen. Wie meistens entwickelt sich das Wetter in der Realität besser als es die Prognose vorsieht und so starten wir in einen windig-kühlen, aber zumindest trockenen Tag. Beim Verlassen der Stadt überqueren wir den Fluss Lignon und haben nochmals einen schönen Blick auf die Stadt.

Auf dem Weg zum höher liegenden Dorf Saint-Jeures passieren wir etliche Weiden. Wo sich die Gelegenheit ergibt, macht sich Julias Tierliebe breit und alle Vierbeiner, die wollen, werden gestreichelt.

Der Mai zeigt sich heute von seiner kühleren Seite und ohne den Schutz des Waldes sind wir dem Wind spürbar ausgesetzt. Man freut sich gerade nach dem Winter auf die Frühlingssonne, die so viel Kraft hat, die gesamte Pflanzenwelt wieder aufzuwecken. Als ich dieses Foto mache, fällt mir aber auf, wie viel Dramatik eine Wolkenzeichnung im Vergleich zum blauen Himmel erzeugen kann.

In St-Jeures legen wir nach etwa 9 Kilometern eine kurze Pause ein. Auf dem großen Platz vor der spätromanischen Kirche findet man einen Jausenplatz, außerdem steht hier ein Jakobsbrunnen und eine Marienstatue.

Da es trotz Jacke für ein längeres Sitzen im Freien zu kalt ist, schultern wir nach wenigen Minuten die Rucksäcke erneut und wandern weiter. In einer spontanen Entscheidung kehren wir mit einem Gusto auf einen Kaffee bei einem Lokal ein, das eine Mischung aus Cafe, Bar, Kleingreissler und Trafik ist. An mehreren Orten ist uns bereits aufgefallen, dass die mit „TABAC“ und „FDJ“ markierten Lokale vielbesuchte Orte sind. Völlig zurecht: der Kaffee ist gut, der Gastgeber freundlich und für den kleinen Hunger hätte es auch etwas gegeben.


Gestärkt und aufgewärmt setzen wir die Etappe fort und erreichen eine Stunde später Araules, dessen Ortsbild ebenfalls von Häusern mit unverputzten Natursteinmauern geprägt ist. In der Kirche Notre-Dame d‘Araules steht die Gottesmutter Maria im Mittelpunkt. Die Glasfenster der Kirche zeigen wichtige Stationen in Marias Leben und wir lesen nach, dass Maria Himmelfahrt hier besonders groß gefeiert wird.


Am Nachmittag nehmen wir die Hügelkette Massif du Meygal in Angriff und wandern entlang von Steinmauern zum höchsten Punkt hinauf. Wir sprechen über die Unterschiede, alleine oder zu zweit zu gehen und über unterschiedliche Varianten eines „Auszeit“ Jahres - sei es der Zivildienst/das soziale Jahr, ein Sabbatical im Zuge der Erwerbstätigkeit oder sonst gewählte Phasen des Unterbrechens, Suchens und Findens.

Wir erreichen die Anhöhe und staunen über den Ausblick auf das vor uns liegende Hügelland. Inzwischen wissen wir von dem Wegführer über die geologische Vergangenheit des Velay Bescheid und können die verstreuten, spitzen Erhebungen als erloschene und erodierte Vulkane zuordnen. Mein Gedächtnis assoziiert frei aus der Vergangenheit und gräbt die Erinnerung an das Kinder- und Jugendbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende aus. Ich habe die Erzählung sehr gemocht und denke jetzt an die Insel Lummerland, die Lokomotive Emma und den König Alfons den Viertel-vor-Zwölften, an den Scheinriesen Herr Tur Tur, den Halbdrachen Nepomuk und vor allem an die Drachenhauptstadt Kummerland, in die das Abenteuer führt.

Hinter dem Pass verlieren wir kurzfristig den Weg, balancieren durch einen Pfad, der mehr Bach als Weg ist und gelangen nach Queyrieres, eine kleine Siedlung, die unwahrscheinlich malerisch um einen gigantischen Basaltklotz liegt. Während die Wolken sich hinter uns verdichten, nutzen wir die letzten warmen Sonnenstrahlen, klettern auf den markanten Fels und genießen den Moment. Steinplatten bilden das Dach der Kirche und der Häuser, dahinter erstreckt sich diese bewunderswerte Landschaft.


Wie unwahrscheinlich, denke ich beim Abstieg, wäre es, diesen Platz ohne dem Jakobsweg jemals gefunden zu haben.

Als wir wieder losziehen, drückt uns ein kalter Wind den Nieselregen entgegen. Plötzlich fühlt sich jeder Schritt hart erarbeitet an, die Finger werden kalt und wie auf der Urlaubsfahrt mit Kindern kommt rasch die Frage auf: „Wie weit ist es noch?“
Der Chemin de Jacques-de-Compostella führt uns durch die Ortschaft Monedeyres und an einem der Vulkanhügel entlang stetig abwärts.

Nach insgesamt 500 Höhenmetern Abstieg schmerzen die Knie und Knöchel. Wir sind froh, in Saint-Julian-Chapteuil anzukommen. Vor dem Weg zum Hotel wollen wir noch zur Kirche gehen, die von weitem sichtbar prominent auf einem Hügel steht. Der Ausblick ist schön, trocken ist es inzwischen auch wieder - doch das große Gotteshaus wird renoviert und ist daher gänzlich geschlossen.

Abends setzt sanfter Regen ein und wir sind froh, das Hotel nicht mehr verlassen zu müssen. Müde sind die Beine von einer weiteren langen Etappe, und empfehlenswert ist das Menü der hoteleigenen Küche.

Lieber Simon, Frau Julia !
Mit großer Freude darf ich nun wieder täglich Eure Erlebnisse miterleben.
Danke Simon für die wunderbaren Berichte und Wahrnehmungen.
Immer wieder lese ich auch von den Pausen um inne zu halten, auch von Begegnungen mit Menschen denen Ihr zufällig begegnet auf dem Weg.
Dabei fällt mir eine Aussage meines früheren Chefs Kard.Franz König ein, er meinte sinngemäß:
Jeder Dialog ist einfach ein Abendteuer! Nichts ist bereichernder, aber auch aufregender, als die Begegnung mit anderen Menschen und ihren Gedanken.
Recht liebe Grüße aus Wien
dein Opa