Die letzte Nacht war so erholsam, dass wir in der Früh verschlafen und erst um halb 8 aus dem Bett kommen. In Erwartung eines bedeckten Tages mit hoher Regenwahrscheinlichkeit ziehe ich die Vorhänge zur Seite und bin positiv überrascht. Ein sanfter Dunst hängt über dem Rhonetal und hohe Schleierwolken am Himmel - ideale Bedingungen für einen weiteren Pilgertag.

Ein romantischer Weg schlängelt sich an den Höfen und kleinen Weilern vorbei Richtung Südwesten. Zum wiederholten Mal in den letzten Tagen fällt uns auf, wie ruhig und scheinbar fast verlassen die ganze Gegend ist.

Wenig später kämpfen wir uns einen steilen Anstieg bis zum Croix de Saint-Blandine hinauf. Langsam wird mir klar, dass mit der Bezeichnung „französisches Zentralmassiv“ tatsächlich Berge und nicht nur kleine Hügel gemeint sind. Der Blick zurück in Richtung des Rhonetals und des weit dahinter liegenden Alpenbogens ist prächtig und lässt auch die steinig-sandigen Böden von gestern wieder in Vergessenheit geraten. Die Blühpflanzen, deren leuchtendes Gelb auf Fotos kaum zu vermitteln ist, kann ich leider nicht identifizieren und nehme mir für den Abend eine Internetrecherche vor. Heute fällt uns besonders auf, wie kräftig deren Farbakzente in der sonst grünen Umgebung sind.

Voller Tatendrang erreichen wir den Gupf dieses Hügels, legen eine Trinkpause ein und steigen schon bald zum Ort St-Julien-Molin-Moulette ab. Wie prächtig manche Ortsbezeichnungen im französischen doch klingen, denke ich mir.


Dort angekommen statten wir der Ortskirche einen Besuch ab und kommen auch bei dem künstlerisch gestalteten Brunnen vorbei, der leider nicht in Betrieb ist. Wir lesen bei Hartmut Engel, dass der Ort auf eine lange kunsthandwerkliche Tradition (Töpferei, Glasmalerei, Holzschnitzerei) zurückblickt. Am steil ansteigenden Ortsausgang Richtung Westen passieren wir den Park Calvaire, in dem mehrere Heiligenfiguren aufgestellt sind. Der Platz strahlt eine stimmungsvolle Ruhe aus. Ich denke plötzlich an meine Mutter, und daran, dass ich ihr versprochen habe, im Garten einen Platz für eine solche Figur zu schaffen. Diesen Park nehme ich gedanklich als gestalterisches Vorbild nach Gerasdorf mit.

Wir steigen wieder etwa 200 Höhenmeter ab und nähern uns mit großen Schritten Bourg-Argental um die Mittagszeit. Nach dem - fast schon obligatorischen - Kirchenbesuch setzen wir uns, jausnen und überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen. Die Wettervorhersage verheißt zwar nichts allzu gutes, dennoch wollen wir die Etappe hier noch nicht beenden. Die Suche nach einer Schlafmöglichkeit knapp vor oder hinter dem zu überwindenden Pass ‚Col de la Tracol‘ gestaltet sich schwierig und artet in einen frustrierenden Kampf gegen Mobilfunktechnik und die Sprachbarriere aus. Schließlich schafft Julia es, mit Händen und Füßen per Telefon eine Herberge knapp hinter dem Pass, in der Ortschaft Les Setoux zu organisieren.
Sobald das Ziel klar ist, kann uns auch der inzwischen eingesetzte Regen nicht mehr aufhalten: jetzt wird durchgebissen!

Als wir kurz darauf mit gesenkten Köpfen und “im Tunnel“ sind und uns weiter in den Talschluss hineinarbeiten, denke ich nochmals über die Entscheidungsfindung nach. War es die beste Idee? Ist es nicht zu spät, zu anstrengend, zu nass? Nein, denke ich - wichtig ist, dass man einerseits einen Plan hat und andererseits einstimmig entscheidet, wenn man zu zweit unterwegs ist. Sollte es nicht gutgehen, kann man immer noch abbrechen und ein Taxi holen.
Nach etwa einer Stunde lässt der Regen deutlich nach und inzwischen hat sich auch ein gewisses Hochgefühl, Herr der Lage zu sein, eingestellt.

Unmittelbar später können wir sogar den Regenschutz ganz wegpacken und wandern auf einer aufgelassenen Bahntrasse mit sehr gemächlicher Steigung weiter. Es ist heute schwer nachvollziehbar, wie man den Aufwand der Errichtung von Tunnel und Brücken wieder zugunsten einer Straße aufgeben, und die Eisenbahnstrecke einstellen konnte. Dieser Tage ist die öffentliche Verkehrsanbindung in den ländlichen Gebieten Frankreichs meinen Erfahrungen nach äußerst dürftig.

So groß der Stolz auf die eigene Leistung auch ist, die letzten Tageskilometer entwickeln sich zu einer intensiven Durchhalteübung. Ein ordentlicher Anstieg, die schweren Beine und ein erneut einsetzender Regenguss lassen uns das Ziel herbeisehnen. Am Ende sollten es 34km mit deutlich über 1000hm werden - ziemlich ambitioniert…

Gegen 18 Uhr treffen wir im Dorf Les Setoux auf ca. 1100 Metern Seehöhe ein. Die Ortschaft wurde, dem Wegführer zufolge, bereits im 13. Jahrhundert erwähnt. Bei den ruppigen Wetterbedingungen male ich mir ein Landleben von damals äußerst hart aus.

Die Kapelle gehört zu den einfachsten Gotteshäusern, die ich je gesehen habe. Mitten im Raum steht ein Holzofen - da muss ich gleich an Weihnachten denken.

Die quirlige Bäuerin Marie holt uns dankenswerterweise von der Kapelle ab und bringt uns zu ihrer Herberge. Dabei handelt es sich um ein ehemaliges, kleines Kloster, das heute hauptsächlich für Pfadfinder- und sonstige Sommerlager genutzt wird. In der Hoffnung auf eine wärmende Dusche macht sich rasch Ernüchterung breit, als aus dem Duschkopf nur kaltes Wasser spitzt. ‚Dusche muss trotzdem sein‘, denke ich und bin nach einer Minute wieder fertig. Einige Minuten später ist das Wasser lang genug gelaufen und damit auch warm geworden.

Wir machen das beste aus der Situation und lernen das portugisische Pärchen Leni und Antonio kennen. Die Gastgeberin hat das vorgekochte Essen in der Herberge gelassen und wir genießen es nun gemeinsam - samt einer hier vollkommen selbstverständlichen Flasche Rotwein. Schon bald entwickelt sich ein nettes Gespräch, bei dem die kürzlich pensionierte Kinderkrankenschwester und der Psychologe aus Nazare erzählen, dass dieser Weg ihr erstes großes gemeinsames Projekt im Ruhestand ist.
DANKE für diesen lustigen Abend mit euch und für den neuerlichen Beweis, dass man immer mehr aus der Situation machen kann als man vielleicht denkt. Für mich ist das ein Stück Ostern!

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