Der Schlaf war tief und nur durch einen ungewohnt hohen Polster getrübt. Wir bekommen ein Frühstück von unserem Gastgeber Andre, anschließend wünscht er uns eine gute Reise - dann sind wir wieder unterwegs.
Unangenehm kräfiger Wind bläst uns entgegen während wir die Ortschaft auf der Anhöhe über deren höchsten Punkt Richtung Westen verlassen. Auf der ‚table d‘orientation‘ ist die richtige Richtung schnell gefunden.

Ehrlicherweise war mir nicht ganz klar, dass der 1. Mai als ‘Tag der Arbeit‘ auch in Frankreich gefeiert wird. Für ein paar Minuten denke ich über diesen Feiertag nach - ‚Tag der Arbeit‘ … dem paradoxen Titel zum Trotz hören wir ganz in der Nähe das Geräusch von Motorsägen. Für diese Waldarbeiter ist es tatsächlich ein echter ‚Tag der Arbeit‘.

Die Streckenführung leitet uns durch Waldstücke und zwischen Feldern hindurch einem Hügelrücken entlang, an dessen Ende der Ort Revel-Tourdan liegen wird. Nun hat sich der Körper wieder auf das gehen eingestellt und das wandern geht leicht und beschwerdefrei.

Immer wieder sind auf den gelben Wegweisern nicht nur die umliegenden Orte angeschrieben sondern auch das mehr als 1600km entfernte Pilgerziel in Spanien extra vermerkt. Ganz allgemein kann man jenen, die entlang der Strecke für die Markierungen sorgen, ein Lob aussprechen. Die Muschelsymbole sind nicht nur häufig ausgehängt, auch da, wo man falsch gehen könnte gibt es oft Hinweise. Ich persönlich möchte nie ohne Landkarte unterwegs sein (danke, Papa!) - möglich wäre es hier jedoch.

Als die Sonne bereits hoch am wolkenfreien Himmel steht und die Luft schon sehr warm ist, erreichen wir die schöne Ortschaft Revel-Tourdan. Auf dem Hauptplatz haben drei Bauern ihre Stände aufgebaut und der Andrang ist groß. Neugierig, und im Wissen, dass ein Jauseneinkauf am heutigen Feiertag ohnehin schwierig werden könnte, legen wir die Rucksäcke ab und mischen uns unter die Einheimischen. Schnell sind frische Erdbeeren, Croissant, Brot und frischer Ziegenkäse trotz der beträchtlichen Sprachbarriere erworben.

Die Erdbeeren (hier nur der letzte Rest) und das Buttergebäck werden gleich vor Ort verspeist. Während wir so in der Sonne sitzen und eine gewisse Beziehung zum Ort aufgebaut haben, habe ich das Gefühl, wieder im „Pilgern“ angekommen zu sein. Was das bedeutet? Schwer zu beschreiben - es ist ein Zustand der Zeitlosigkeit, der einfachen Bedürfnisse und des bewussten Entdeckens der Umwelt.

Nach der Genuss-Pause wechseln wir von der langen auf die kurze Hose und marschieren weiter. Nachdem die TGV Bahntrasse unterkreuzt ist, treffen wir auf zwei Pilger, die uns eigenartigerweise entgegenkommen. Bei einem kurzen, herzlichen Austausch erzählt uns einer der Männer aus Tschechien, dass sie mit einer großen Gruppe unterwegs seien und nun zurückwanderten, um das Auto zu holen. Auf den folgenden Metern denken wir darüber nach, können aber das System mit dem Auto nicht ganz verstehen.
In einem munteren Auf und Ab biegen wir bei Bellegarde Richtung Norden ab und fangen zu schwitzen an, als wir einige Höhenmeter hinaufsteigen. Oben angekommen ist die Anstrengung beim Anblick der ‚Chapelle de la Salette‘ sofort vergessen. Die kleine, bildschöne Kapelle ist von einem alten Friedhof umgeben und blickt weit über das Land. Im Inneren schwebt eine Kunstinstallation in der Mitte des Raumes.


Während ich mir noch Gedanken zum Sinn der Trockenblumen, Fiolen und Teelichter mache, steigen wir den Rest des Hügels empor und finden einen wunderbaren Rastplatz samt Ausblick vor. Hier verspeisen wir den zuvor gekauften Ziegenkäse und einige Scheiben Brot. Natürlich ist man hungriger und damit leichter zufriedenzustellen als nach einem Arbeitstag im Büro - doch diese simple Jause ist ein Traum und jedenfalls mein kulinarischer Höhepunkt der letzten Wochen.

Nach der Jause trennen uns nur noch 6 km von unserem heutigen Tagesziel, einem Bauernhof, wo wir ein Zimmer reserviert haben. Während wir durch die Landschaft streifen, sehen wir immer wieder Felder, die den Eindruck erwecken, mehr Steine als Erde beinhalten. Bei diesem beispielhaften Acker könnte man meinen, die zu erntenden Knollen lägen oben auf.

Wenige hundert Meter vor unserer Unterkunft kommen wir noch an dem Kloster Carmel Notre-Dame de Surie und der Lazarus-Quelle vorbei. Insbesondere bei Quellen kann ich die zugesprochene Wirkung der Heilsamkeit in gewisser Weise nachvollziehen. Das Wasser ist für das Überleben von Tier-, Mensch- und Pflanzenwelt unverzichtbar, wirkt reinigend, erfrischend, belebend und metaphorisch weit darüber hinaus. Der Ursprung des Wassers, die Quelle, ist damit es was ganz besonderes; wenn man so will, etwas heiliges. Ich verfolge den Gedanken weiter und erinnere mich an die Feier der letzten Osternacht, wo das Wasser gesegnet und die Tauferneuerung ausgesprochen wurde. Es ist (bei Gott) kein Zufall, dass wir mit Wasser getauft sind.


Die Angewohnheit, das Gesicht bei fließendem Wasser zu waschen, habe ich natürlich nicht verlernt…


Der Bauernhof empfängt uns herzlich und die Wiese vor dem Haus lädt ein, sich in der Sonne auszuruhen. Heute wird uns nach dem improvisierten Abendessen bei einem kurzen Rundgang am Hof bewusst, wie spät hier die Sonne erst untergeht (etwa 20.40) und wie erfreulich lange es hell bleibt.
Leider gestalten sich die Quartier- und Supermarktsuche in dieser doch sehr ländlichen Gegend ziemlich schwierig und wir sind lang damit beschäftigt, eine geeignete Unterkunft für den kommenden Tag zu finden.
Mit einer glühend untergehenden Sonne sagen wir Bonne Nuit!

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