Wetterbedingt habe ich auch heute wieder Zeit, den tiefen Schlaf am Morgen auszukosten. Gegen 8 Uhr sitze ich mit der überaus freundlichen Gastgeberin Fr. Liechti beim Frühstückstisch und wir sprechen über das regenreiche Wetter diesen Sommer und ihre vielfältigen Erfahrungen mit Pilgern. Ich habe das Gefühl, dass sie gut zuhören kann und dabei menschlich auch schon Vieles gelernt hat. Als der Regen nachlässt, nehme ich meine heutige Tagesetappe in Angriff.

Zwar sind es wieder nur 22 km Wegstrecke, doch das Auf und Ab im Naturpark Gantrisch haben es in sich. Auf halber Strecke zum Lörtschberg hinauf fällt mir auf, dass ich meine Wanderstöcke zum zweiten Mal auf dieser Reise liegen habe lassen und kehre nochmals um. Der Anstieg ist steil und schnell wird mir warm.

Oben komme ich im trüben Nass an einer Herde von mir geliebter Schafe vorbei. Wie beim Mutter-Kind-Turnen geht es hier zu. Das Blöcken der Kleinsten ist wirklich ein herzerwärmender Laut.

Ich durchschreite die Senke bei Burgistein, wo man einen Blick auf das Schloss hat, das auf einer Anhöhe liegt. Die Gegend wird ansonsten von landwirtschaftlichen Betrieben geprägt. Stellvertretend für die vielen gepflegten Gehöfte (samt Schweizer Flagge) sei hier ein Beispiel gegeben.


Auf Schotterstraßen bewege ich mich gemächlich auf die Ortschaft Riggisberg zu. Beim Wegführer von Hartmut Engel, eine Empfehlung meines Pilgervaters Wolfgang, die ich nur weitergeben kann, lese ich, dass der Ort im 2. Weltkrieg traurige Aufmerksamkeit erlangt hatte. Englische Bomber „erleichterten“ sich 1943 am Weg nach Italien ihrer Beladung, als sie in ein Gewitter gekommen waren. Wie durch ein Wunder waren damals keine Opfer zu beklagen und der enorme Sachschaden wurde später finanziell ersetzt.
Ich verliere mich indes ohne der optischen Ablenkung von grandiosen Aussichten in meine Gedanken, durchwandere das Dorf und steige die Stufen zur Kirche hoch.

Ich hole mir den Pilgerstempel, halte in der Kirche kurz inne und setze mich dann vor der Kirche auf eine Bank um mein eingepacktes, doppelt belegtes Käsebrot zu essen.
Meine Gedanken verlieren sich. Nachdem ich mich gestern Abend in der Mitte des Nichts einigermaßen alleine gefühlt und heute in einen sehr meditativen Trott gefunden habe, steigen plötzlich Sinnfragen in mir hoch. Abgesehen von der sportlichen und abenteuerlichen Herausforderung: Warum bin ich hier? Ich erinnere mich daran, was ich meinem besten Freund zu seinem 30. Geburtstag gesagt habe: die Analogie des „Weggehens“ zum Lauf des Lebens. Mal leicht, mal schwer / mal ereignisreich, dann ruhig / einmal zielgerichtet, dann orientierungslos / mal lachend und auch mal weinend / verzückt in der Pause, verzweifelt nach dem Sturz / mal Kaiserwetter, dann so trüb, dass man die Hand vor Augen kaum sehen kann. Ich spüre, wie Hilflosigkeit in Anbetracht dieses Gefühlsgewitters in mir aufsteigt und versuche, alle Empfindungen zu akzeptieren und zuzulassen. Ein Spruch an einer hölzernen Hauswand der letzten Tage kommt mir in den Sinn: „An Gottes Segen ist Alles gelegen“. Ich nehme wahr, wie langsam Ruhe in mir einkehrt. All das und noch Vieles mehr gehört dazu - im Leben und auch auf einem so langen Weg.
Und so sitze ich da, Tränen der emotionalen Überwältigung in den Augen, spüre, wie die Sonnenstrahlen beinahe durch die Wolkendecke brechen und werde kurz darauf von den Mittagsglocken der Kirche hinter mir aufgeschreckt. Es ist ein Moment, den ich niemals vergessen werde.

Nach diesem zutiefst emotionalen Erlebnis setze ich meinen Weg mit neuem Mut fort. Ich gehe an einem kleinen Spital vorbei, das eher aussieht wie ein Kurhaus, und folge einem langsam ansteigenden Weg über Tomwil und Mättwil Richtung Rüeggisberg. Am Weg dorthin fällt mir eine architektonische Veränderung auf: Viele der Häuser haben in der Gegend einen seitlich rund nach Innen geschlossenen Dachstuhl auf der Balkonseite. Bei diesem Neubau wurde der Stil beibehalten.

Rüeggisberg (nicht namensgleich mit dem vorangegangenen Dorf) macht einen sehr urtümlichen Eindruck. Das liegt vor allem an den gut erhaltenen alten Häusern, die zum Teil unter Denkmalschutz stehen.

Unterhalb des Dorfplatzes vernehme ich eine lautsprecherverstärkte Stimme und stehe kurz darauf in mitten eines Viehzüchterwettbewerbs. Die Veranstaltung genießt reges Interesse und hat bis zu Festzelt samt Getränken und Würstel alles, was es braucht. In verschiedenen Klassen und mit einem Vokabular, das mir ziemlich fremd ist, werden hier die herausgeputzten Tiere bewertet und beklatscht.


Wenige Meter weiter steht die Ruine eines Klosters, dessen Geschichte ins 11. Jhdt. zurückreicht. Der Wallfahrts- und Zufluchtsort für Jakobspilger verlor ins 16. Jhdt. hinein an Bedeutung, wurde später anderwärtig verwendet und begann zu verfallen.

Im unmittelbaren Nachbargrundstück finde ich einen der schönsten blühenden Bauerngärten, die ich seit langem gesehen habe.

Von Rüeggisberg steige ich einen Weg über Helgisried und Rohrbach zum „Schwarzwasser“ hinunter. Die Wegmarkierung zeigt standesgemäß das Bärenwappen des Kantons Bern. Auch wenn es nun langsam heller wird, die Sicht auf die südlich liegenden Gipfel der Berner Alpen bleibt mir weiter verwehrt.

Nachdem der Fluss Schwarzwasser, der dem ländlichen Gebiet „Schwarzenburger Land“ seinen Namen gibt, überschritten, und ein Teil des Naturschutzgebietes am Fluss entlang passiert ist, steige ich zu einer kleinen Hochebene auf. Während immer wieder Militärflugzeuge über mich hinwegdonnern, reißen langsam Lücken in die sonst beständige Wolkendecke.

Am Ende dieser Hochebene erwarten mich einige letzte Höhenmeter auf den sogenannten Galgenberg auf mich. Während ich den kurzen Anstieg überwinde, denke ich über die Namensgebung nach und ein Schauer läuft mir über den Rücken. Oben angekommen erwartet mich ein Blick über die Stadt Schwarzenburg und - soweit sichtbar - das Freiburger Mittelland.
Wenig später treffe ich beim Gasthof Bühl ein, beziehe mein Zimmer, wasche die Wäsche und mich und breche nochmals zu einem kurzen Stadtspaziergang auf. Ich folge den Empfehlungen meines Wegführers und komme am prächtig erhaltenen Schoss aus dem Jahre 1575 sowie der Kirche Maria Magdalena vorbei.


Als es wenig später zu regnen beginn, sitze ich bereits beim Abendessen und höre während dem Verfassen des Blogs zu später Stunde noch eine Gesangsgruppe in der Stube.
Mir bleibt noch ein Blick auf den morgigen Weg, das Sondieren nach möglichen Unterkünften und eine bescheidene Französischlektion am Handy zu absolvieren...
Gute Nacht!
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