Wo die deutsche Fußballnationalmannschaft 1954 vor dem Gewinn der Weltmeisterschaft einst Kraft tankte, tue ich es ihnen heute gleich und schlafe nach den ereignisreichen letzten Tagen bis fast 9 Uhr aus. Ein Detail am Rande: Den Namen der Ortschaft spricht man nicht mit langem „i“ wie man vermuten könnte sondern betont das „e“ gesondert. Nach einem Kaffee im empfehlenswerten Hotel „la belle vue“ statte ich der Kirche im Ort noch einen Besuch ab und werde an die schlichte Innenausgestaltung der reformierten Gotteshäuser erinnert.

Anschließend steige ich einige Meter zum Spiezberg hoch. Von hier hat man über die Weinberge hinweg einen schönen Ausblick auf die Stadt und den Hafen, der heute wolkenverhangen da liegt.

Der Umstand meines geplant späten Starts und der eingeschränkten Übernachtungsmöglichkeiten in der Gegend haben zur Streckenplanung von etwa 22km beigetragen.

Durch den dichten Eggliwald erreiche ich nach etwa einer halben Stunde den Weiler Riederen, wo ich an einer pilgerfreundlichen B&B Unterkunft vorbeikomme. Das Schild im Wald führt zu einem reizenden Hof, der einschlägig dekoriert ist…


Die Komfortansprüche der meisten Pilger sind eher niedrig angesetzt - wo es geht genieße ich jedoch ein anständiges Einzelzimmer statt bei den Hendln im Heu zu schlafen ;)

Ich steige Richtung Thunersee hinab, unterquere die Eisenbahngleise und treffe bald darauf in der Ortschaft Einigen ein. Unmittelbar neben der Schiffsstation steht die Dorfkirche aus dem 10. Jahrhundert. Das Gebäude wurde seither unwesentlich verändert. Hier werden die Glocken noch mit der Hand geläutet und überhaupt legt die romantische Aussicht einen häufigen Verwendungszweck nahe: Hier wird oft geheiratet. Das kann ich mir, dem trüben Wetter zum Trotz, hier durchaus vorstellen.

Erneut quere ich die Eisenbahngleise und quere den, aus gleichnamigen Tal kommenden Fluss Kander kurz vor dessen Mündung in den Thunersee. Der Gang über die Brücke ist beeindruckend, weil sichtbar wird, zu welch tosendem Ungeheuer der Fluss wohl werden kann.



Nach der Überschreitung der Brücke führt der Weg zum Strättligturm, dem Rest einer Höhenburg aus dem 13. Jhdt. hoch. Ich komme ins Schwitzen und umrunde die Anlage um festzustellen, dass der Zugang nicht öffentlich ist.
Wenige hundert Meter nach dem Turm lege ich eine empfohlene Pause unter einer großen Linde ein und schaue zurück über den See.

Hier oben zieht ein kräftiger, kalter Wind. Rasch ziehe ich meine Regenjacke an und bin gleichzeitig froh, die Thermoskanne doch mitgenommen zu haben. Der rasche Wetterumschwung bringt ein Wechselbad der Temperaturgefühle: strahlend sonnig am Brienzergrat, schwül und heiß am Weg aus Interlaken heraus, feucht, kühl und windig am Weg Richtung Naturpark Gantrisch. Ständig habe ich heute das Gefühl, zu viel oder zu wenig Gewand anzuhaben und bleibe oft stehen, um mich anzupassen. Doch ich will nicht „sudern“, wie man so schön im wienerischen sagt. Die iPhone Wetterprognose mit 90% Regenwahrscheinlichkeit für 05.00 bis 19.00 hat sich - wie so oft - nicht bestätigt. Bis auf wenige kurze Nieselschauer ist es heute trocken geblieben.
Ich gehe weiter und habe eine gute Sicht auf die Stadt Thun im Nordwesten des gleichnamigen Sees.

Die Route zweigt danach Richtung Westen ab, unterquert die Autobahn A6 und führt mich durch den Bodewald bis nach Amsoldingen. Der gesamte Bereich gehört, wie auch der Naturpark Gantrisch, zum Kanton Bern. Die hügelige Moränenlandschaft wurde in der Eiszeit geformt und ist heute hauptsächlich durch die Landwirtschaft geprägt. Die alten Bauernhäuser mit ihrem reichen Blumenschmuck erinnern mich ein wenig an das Mostviertel. In Amsoldingen angekommen gehe ich direkt zur Kirche. Die ottonische Basilika und der angrenzende Pfarrhof geben ein prächtiges Bild ab. Gerne hätte ich einen Blick ins Innere der Kirche gemacht, doch eine gerade stattfindende Taufe und die strenge Kontrolle nach Gästeliste und COVID Nachweis verhindern leider einen Besuch.

Leider verdecken auch ausgedehnte Wolkenfelder den sonst als malerisch beschriebenen Blick auf die Bergspitzen Stockhorn und Gantrisch. Ich esse ein paar Stücke meiner schweizer Lieblingsschokolade, Ragusa, und mache mich am Amsoldingersee vorbei auf den Weg nach Blumenstein. Bald nach dem Verlassen von Amsoldingen streife ich ein militärisches Sperrgebiet und muss beim Lesen der Hinweistafel schmunzeln. Ein schlichter Verbotshinweis reicht in der Schweiz meist nicht: die gesetzliche Referenz wird fast immer dazu erwähnt.

An ausgedehnten Kuhweiden und Bauernhöfen erreiche ich nach einiger Zeit den Ort Blumenstein. Ein eigenwilliges Gebäude der Gemeindeverwaltung fällt mir auf.

Die letzten Tageskilometer beschreite ich im Gürbetal, meist dem gleichnamigen Fluss entlang. Das feuchte Wetter, die gefallenen Blätter und der herbstliche Geruch zwischen Nussbäumen und Kastanien prägen meine Eindrücke. Ich mag diese Zeit im Jahr - solange es noch nicht allzu kalt ist.

Als eines der spärlichen Gästehäuser empfängt mich das Ehepaar Liechti in ihrem B&B in Wattenwil, einem Ort der Funden zufolge bereits in der Stein- und Bronzezeit besiedelt war. Ich entscheide mich heute, ein Abendessen in der Gemeinschaftsküche selbst zuzubereiten und habe endlich Zeit, etwas früher zu Bett zu gehen.
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