Willkommen zurück bei “der lange Weg“ !
Einigermaßen kurzfristig hat sich bei mir ein Zeitfenster im Herbst eröffnet, das ich frei genommen und später ausgedehnt habe, um mein Herzensprojekt fortzuführen. Nach fordernden Wochen mit arbeitsreichen Diensten in der Stadt, dem Abschluss des pädagogischen Lehrgangs an der Rettungsakademie und dem ÖAMTC Flugretter-Assessment in St. Wolfgang am See stolpere ich aus einem Nachtdienst, packe inzwischen gekonnt meine 7 Pilgersachen und steige in den Zug Richtung Westen. Spätabends komme ich in Interlaken an und beziehe das gleiche Hotel wie bei meinem letzten Besuch.
Am nächsten Morgen läutet der Wecker bereits um 06.30, ich frühstücke und fahre mit dem Zug nach Brienz, wo ich meinen letzten Wegabschnitt beendet habe. Zuletzt noch um des schlechten Wetters trübselig, freue ich mich auf diesen Samstag, für den strahlender Sonnenschein vorhergesagt ist.
Gegenüber des Bahnhofs finde ich die Talstation der Brienzer Rothornbahn, löse ein Ticket mit meinem inzwischen erworbenen “Swiss Pass“ (vulgo „halb tax“ - die schweizer Vorteilscard) und stapfe an der dampfenden Lokomotive vorbei zu meinem zugewiesenen Platz. Morgendliche Wolken, die einfallende Sonne aus dem Osten und der Dampf der Lokomotive lassen einen ursprünglichen und rustikal-romantischen Flair entstehen.

Im Land der unzähligen Zahnradbahnen ist die Bahn zum Brienzerhorn eine Besonderheit: 1892 in Betrieb genommen, ist sie die älteste Dampfzahnradbahn der Schweiz. Sobald die Maschine auf Betriebstemperatur ist, beginnen die 2 langen Wagons zu vibrieren und mit einem deutlichen Ruck setzt sich die Bahn in Bewegung. Ein rascher rhytmischer Takt stellt sich ein und ich habe das Gefühl, den Ursprung der rohen Kraft am ganzen Körper zu spüren. 25% Steigung drückt uns die Dampflokomotive nun den Berg hoch.
Bei der Mittelstation ‚Planalp‘ auf etwa 1.350 m Seehöhe steige ich aus und schaue der Lokomotive beim Wassertanken zu.

Nun wird es Zeit, etwas zur heutigen Routenwahl zu sagen: Aufgrund des hervorragenden Wetterberichts habe ich mich dazu entschieden, statt der Wegführung im Tal, dem See entlang, den Weg über den Brienzer Grat zu nehmen. Die Gratwanderung wird vielerorts als eine der schönsten Panoramawanderungen in den Berner Alpen beschrieben und hat nach einigen Beispielbildern rasch mein Interesse geweckt. Damit sich die Wegstrecke zeitlich ausgeht, nutze ich die Bergbahnen um zum Start- und Endpunkt des Grates auf etwa 1350 m zu gelangen.

Von der Planalp weg bleibe ich zunächst unterhalb des Brienzer Grates, weil ich eine schwierige Stelle um das Tannhorn umgehen möchte. Mein Weg führt mich über saftige Almgebiete, die von den Kühen bereits weitgehend verlassen wurden. Beim Blick zurück Richtung Osten kündigt sich bereits die Sonne an.

Schon nach kurzer Zeit ergeben sich beeindruckende Ausblicke über das Tal mit dem Brienzer See, die Bergkette gegenüber und die Giganten mit über 4.000 m Höhe dahinter.

Auf meiner eigens gewählten Route ist kaum jemand unterwegs und ich versuche mich wieder in meinen Gehrhytmus einzufühlen. Das Gelände ist abwechslungsreich, der Ausblick mein ständiger Begleiter und so mag sich der ‚meditative Trott‘ heute nicht so recht einstellen. Bevor es die letzten 250 hm zum Grat hoch geht, mache ich eine Pause bei einer Bergquelle und fülle die Trinkflasche auf.

Der Aufstieg zum Grat der Bergkette fordert mich - ich spüre zum ersten aber nicht letzten Mal, dass das Gewicht meines Gepäcks das übliche „Tagesbinkerl“ doch deutlich überschreitet. Ein Schreck durchfährt mich als ein handballgroßer Stein etliche Meter neben mir Richtung Tal fliegt. Der Blick nach oben auf eine Wanderergruppe löst Entrüstung aus.
Schließlich erreiche ich den Grat und bin von der Perspektive nach wenigen Metern vollkommen überwältigt. Der unterschiedlich breite Grat gibt die Richtung vor, das Panorama erstreckt sich jedoch über volle 360 Grad.

Schnierenhiereli und Gummhoren sind die klingenden Namen der ersten Zwischengipfel, die ich zum Teil kletternd erklimme.

Der Weg ändert sich ständig: vom breiten Wiesenweg zur ausgesetzten Kleinkletterei ist alles dabei. Was ich jedenfalls attestieren kann: kurzweilig und für Schwindelfreie äußerst empfehlenswert. Von all den äußeren Eindrücken abgelenkt vergesse ich aufs Essen - woran mich ein steiler Anstieg ziemlich deutlich erinnert. Es wird Zeit sich zu setzen, zu essen, Tee zu trinken und die Aussicht in Ruhe zu genießen.

Letztlich ist es unmöglich, die heutige Bergerfahrung in Bildern festzuhalten. Ein Auf und Ab zwischen 1900 und 2100 m Seehöhe und der Blick über den smaragdgrünen Brienzersee hin zu Eiger, Mönch, Jungfrau und deren Artgenossen bleibt für mich ein ganz besonderes Erlebnis.

Der letzte Aufstieg zum Augstmatthorn, dem markanten Endgipfel der Bergkette, verlangt mir Einiges ab. Ich bin froh, noch Energieriegel und Traubenzucker eingepackt zu haben. Oben angekommen fällt die zunehmende Anzahl an Wanderern auf. Die Meisten nehmen den Gipfel vom näher gelegenen Harder Kulm in Angriff.
Der Abstieg vom Augstmatthorn entwickelt sich dann zu einer ziemlich anstrengenden Angelegenheit. Mit jedem Tritt auf einen spitzen oder scharfkantigen Stein wird mir schmerzhaft bewusst, dass mein Schuhwerk für lange alpine Touren einfach nicht geeignet ist und einer härteren Sohle bedürfte.
Ich bin froh, als ich beim touristisch überschwemmten Restaurant am Hader Kulm ankomme.

Nach einem kleinen Cola und großen Weißbier stelle ich mich für eine Fahrt mit der Bergbahn an. Die 10 min Fahrzeit sparen mir viele Höhenmeter Abstieg.
Meine Mitfahrenden repräsentieren außerdem den Durchschnitt der Touristen in Interlaken, durch das ich anschließend Richtung Hotel spaziere. Eine spätere Unterhaltung mit dem Hotelangestellten bestätigt meine Wahrnehmung: Saisonal unterschiedlich sind hierorts viele Inder, Araber, Chinesen, Amerikaner und Europäer anzutreffen. Die „Kurstadt“ strotzt von Grand Hotels und anderen Unterkünften unterschiedlicher Preisklasse. Das Victoria Jungfrau Hotel bietet mir einen sinnbildlichen Anblick: Hotelzimmer jenseits der 400 Euro und junge Paragleiter oder andere Bergbegeisterte - hier kommt Vieles zusammen.

Die Geschichte des Kurorts führt zurück ins 18. Jahrhundert, als erste Reisende den Ort aufgrund der beeindruckenden Bergkulisse aufsuchten. Auch Goethe hatte einst hier verweilt. Auf dem Weg zu meiner Bleibe für die Nacht habe ich noch eines der alten Hotels festgehalten. Alte Hotels zwischen den Gewässern, moderner Bergsport und internationaler Tourismus machen den Ort aus.

Im stadtbekannten Gasthof Bären stärke ich mich bevor ich mich im Hotel zurückziehe, meine Tagesetappe zusammenfasse und Pläne für morgen schmiede.
Gute Nacht allerseits!
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