Das Apartment, in dem wir nächtigen, hat nur einen Fehler: Die eingebaute Klimaanlage ist die einzige Heizungsmöglichkeit. Zwar haben wir die triefend nassen Wanderschuhe gestern noch zwei Mal mit Zeitungspapier ausgestopft, doch das reicht leider nicht aus, sodass sie bis heute früh trocken geworden wären.
Wir haben gestern noch in dem kleinen Supermarkt eingekauft und nutzen heute die Küche, um ein Frühstück samt einer großen Portion Spiegeleier zuzubereiten.
Gegen halb 9 Uhr verlassen wir das Haus und starten die 108. Tagesetappe, die uns zunächst durch Portomarin wieder zum Stausee hinunter führt. Auf einer Brücke, die einen Seitenarm des Sees überspannt, kommt der Pilgerstrom aus unterschiedlichen Teilen des Dorfes zusammen, um auf der anderen Uferseite einen Hügel hinauf zu führen. Die Morgenstimmung ist prächtig und wir freuen uns über die aufgelockerten Wolken.

Ein paar der hunderten Pilger sind in Gruppen organisiert und warten immer wieder auf Vollständigkeit, andere verblüffen mit interessanten Outfits - die Meisten sind jedenfalls mit Tagesrucksäcken unterwegs und lassen ihr Gepäck vom Lieferdienst transportieren.
Der Weg führt durch Waldstücke und gelegentlich auch der Straße entlang, ist aber angenehm zu gehen.

Wolken ziehen über uns umher und manchmal sieht es so aus, als ließe der nächste Regenschauer nicht mehr lange auf sich warten, doch wir bleiben bislang trocken. Sobald die Sonne herauskommt, oder Teilstrecken mit Steigungen zu bewältigen sind, wird es rasch warm. In meinen Gedanken und im Herzen trage ich heute besonders meinen jüngsten Bruder Lorenz bei mir. Ich erinnere mich an die Firmung, als ich sein Pate werden durfte, und nehme den heutigen Pfingstsonntag zum Anlass, um die 7 Gaben des heiligen Geistes ins Gedächtnis zu rufen und um zu beten.

Irgendwann im Laufe des Vormittages fällt mir auf, wie wenige Fotos ich heute mache und frage mich, ob ich so wenig aufmerksam sei? Schließlich kann ich auch jetzt am Ende des Tages feststellen, dass einfach nicht allzu viel Erwähnenswertes passiert ist. Die Route führt von einem kleinen Weiler zum nächsten, Bauernhöfe mit angeketteten Hunden umgeben den Weg und in regelmäßigen Abständen laden große Raststationen zur Pause ein. So mancher Pilger trotzt dem Wetter und holt sich auch bei diesen Temperaturen ein Eis.

Es ist bereits nach Mittag, als wir im Weiler Portos eine Kaffeepause machen. Rechts im Bild ist eine überdimensionale, metallerne Ameise zu sehen, die es symbolisch auch auf den Pilgerstempel der Raststätte mit schönem Gartenbereich geschafft hat.

Als wir wieder unterwegs sind, bekommen wir zwei Beispiele für ungewöhnlich Reisende zu sehen. Zuerst überholt uns wippend dieses Tandemfahrrad eines hollandischen Paares und kurz darauf sehen wir zwei junge Amerikaner, die statt eines Rucksacks lediglich mit einer winzigen Markenhandtasche unterwegs sind. Die Art und das Tempo, diesen Weg zu fahren oder zu gehen sind vielfältig, zeitweilen sogar schräg und unterhaltsam.


Keines der kleinen Dörfer, durch die wir wandern, bedarf einer gesonderten Beschreibung. Die Kirche von Lestedo ist allerdings seit längerem ein Gotteshaus, dessen Pforten nicht versperrt sind - was mich sehr freut. Der Friedhof, der die Kirche umgibt, ist für mich erstaunlich: die bereits beschriebenen überirdischen Gräber sind hier nach außen gerichtet. Das gewohnte Bild wäre eine Friedhofsmauer, die die Sichtbarkeit der Ruhestätten begrenzt und den Bereich nicht nach außen öffnet. Ich kann mir vorstellen, dass man diese Lösung aufgrund des Platzmangels gefunden hat; jedenfalls ist man auch im vorbeigehen mit dem Grab, Erinnerungsort und Symbol der Endlichkeit, konfrontiert.

Die Einladung der geöffneten Türe wird von vielen Pilgern angenommen. Im Innenraum führt der anwesende Priester ein Gespräch mit einer Frau und einige Pilger stempeln ihren Credencial ab. „Öffnet die Tore für Christus“, war das Jahresmotto der katholischen Kirche vor einiger Zeit. Ich habe das gut gefunden: Um Innehalten, Beten und Glauben zu erleben, muss der Zugang erleichtert; ja, so einfach wie möglich, und die Tore der Kirche wie Arme des Willkommens weit geöffnet sein.

Die Route führt hügelabwärts auf das größere Dorf Palas de Rei zu, während die verbleibenden Kilometer bis nach Santiago wie von selbst weniger und weniger werden.


Vor einigen Tagen habe ich eines der letzten ordentlichen Zweibettzimmer in der Ortschaft reserviert, das wir jetzt beziehen. Als es am späten Nachmittag immer wieder zu regnen beginnt, liegen wir bereits geduscht auf dem Bett und staunen über die beeindruckende Fahrt des jungen Slowenen Pogacar auf der Königsetappe des Giro d‘Italia.
Julia fühlt sich heute nicht ganz fit, sucht eine Pharmacia auf und kauft gestikulierend Paracetamol und Nasenspray. Danach finden wir ein winziges italienisches Lokal, das von einer herzhaften Frau und ihrem kochenden Gatten geführt wird, und bekommen dort glücklicherweise einen Tisch (was bei dem Andrang an Pilgern nicht ganz selbstverständlich ist). Kaum 4 Quadratmeter misst die Küche, in der hier ein wirklich ausgesprochen gutes Abendessen gezaubert wird.

Es ist kaum halb 8 Uhr Abends, als wir uns bereits auf das Zimmer zurückziehen. Auf dem Weg dorthin werfen wir noch einen Blick in die gegenüberliegende, kleine Kirche, in der gerade aus dem Lautsprecher vorgegeben, Rosenkranz gebetet wird. Ich persönlich konnte mit dem häufigen Rezitieren der gleichen Gebete bisher noch nie innere Ruhe finden können, wie sollte es dann in einer fremden Sprache gelingen?
Auf dem Bett sitzend tippe ich heute diese Zeilen als Zusammenfassung eines Tages, der erstaunlich schnell vergangen ist.

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