Die Nacht war erholsam, das rustikale Zimmer gut geheizt und meine Kleidung sowie die Schuhe sind wieder ganz trocken geworden. Die Wettersituation draußen hat sich noch nicht geändert. Das Dorf auf etwa 1.200 Metern Höhe ist von dichten Wolken umgeben und es nieselt. In der gegenüberliegenden Stube brennt ein Kaminfeuer, das wie gestern früh zum verweilen einlädt. Mein einfaches, typisch spanisches Frühstück besteht aus zwei dicken Scheiben getoastetem Weißbrot mit Butter und Marmelade sowie einem großen Heferl „Cafe con Leche“. Dafür zahlt man übrigens gerade einmal 4 Euro - das Essen und Trinken ist deutlich günstiger als bei uns zu Hause.

Bevor ich aufbreche, komme ich mit John aus England und seinem deutschen Schwiegersohn ins Gespräch. Der Brite beteuert, seit langem Wien besuchen zu wollen und kommt bei dem Gedanken, eine Symphonie von Gustav Mahler im Wiener Konzerthaus hören zu dürfen, ins schwärmen. Außerdem werden die obligatorischen Fragen zur persönlichen Wegführung besprochen. Als ich mich schließlich wetterfest mache und den Rucksack schultere, ist es bereits 9 Uhr.

Die ersten Tageskilometer bieten ein ähnliches Bild wie gestern: Dichte und feuchte Wolken- und Nebelschwaden werden vom kräftigen Wind herumgetragen und lassen keine Weitsicht zu.
Je weiter ich ins Tal absteige, umso erträglicher wird das Wetter; zudem verläuft der Weg immer wieder durch Waldstücke und ist daher windgeschützt.

Die kleinen Ortschaften, durch die der Camino führt, scheinen menschenleer zu sein. Schieferplatten decken die Häuser, die den Eindruck machen, über hundert Jahre keine Veränderungen erfahren zu haben.


Nach 10 Kilometern erreiche ich Triacastela, wo es viele Herbergen, Cafes und Geschäfte gibt. Am Ende der Hauptstraße dieses vielgenutzten Etappenortes zeigen die gelben Pfeile in entgegengesetzte Richtungen: rechts der kürzere Weg über den Pass „Alto do Ricobao“ und links der Weg über das Kloster Samos. Obwohl ich mir fest vorgenommen habe, die kürzere Variante zu gehen, höre ich auf mein Bauchgefühl und entscheide mich spontan für die längere Wegalternative.
Der Weg ist wunderbar und schon bald freue ich mich sowohl über meine Entscheidung als auch auf die Besichtigung des Klosters. Als zusätzliche Belohnung kommt die Sonne heraus und ich halte in einem winzigen Dorf gegenüber der Kirche an, um nach den vielen trüben Stunden die Wärme zu genießen.


Die Wegvariante folgt dem Lauf des Flusses Oribio, der später zum Rio Sarria wird. Es ist ein sehr fruchtbares und beeindruckend grünes Tal. Auf den Pfaden bin ich alleine unterwegs und genieße die Wegführung, die frische Luft und den Geruch des nassen Waldes.

In der Region Galicien wird die Markierung mit den typischen, steinernen Wegweisern besonders ernst genommen und man gibt die übrige Wegstrecke bis nach Santiago auf drei Nachkommastellen genau an.

Auf dem Weg nach Samos fängt es immer wieder an, zu regnen, doch das stört mich nach den letzten Tagen kaum mehr. Ich versuche hartnäckig auch die Kirchen der kleinsten Weiler zu besuchen, stoße dabei aber immer auf verschlossene Türen.


Kurz nach Mittag kommt der große Klosterkomplex von Samos in Sichtweite. Die Anlage liegt im Tal neben dem Fluss und ist alleinstehend größer als die meisten Dörfer, die ich in den letzten Tagen durchwandert habe.

Das Kloster San Julian geht auf eine Benediktinergründung Mitte des 7. Jahrhunderts zurück, wobei von den damaligen Gebäuden nichts mehr übrig geblieben ist. Das imposante heutige Bauwerk wurde im 17. Jahrhundert erbaut.
Bald merke ich, dass ich nicht der Einzige bin, der das Kloster auf der Suche nach einem Eingang umrundet: gemeinsam stellen wir fest, dass jede einzige Türe versperrt ist. Mit aufsteigendem Unmut betrete ich eine Bar und bestelle ein kleines Bier. Auf meine gestikulierende Frage, wann das Kloster denn zu besichtigen sei, deutet die Kellnerin auf die Uhr und sagt: „A la una!“. Ich freue mich und komme mit einer Pilgerin aus Malaysien ins Gespräch, die gerade nach einer Busverbindung nach Sarria sucht.

Um 1 Uhr verlasse ich die Bar, finde eine geöffnete Türe in der langen Klostermauer und stehe plötzlich in einem Schlafsaal. Ich frage den alten Mann, der hinter einem Schreibtisch sitzt nach dem Weg zur Kirche. Er erhebt sich, zieht mich am Ärmel nach draußen, zeigt auf eine unübersichtliche Tafel und versucht mir auf Spanisch zu erklären, dass das Kloster erst um 16:30 wieder zu besichtigen ist. Die Öffnung um 1 Uhr war also auf den spendenbasierten Schlafsaal bezogen, nicht auf das Kloster. Ich bitte ihn, zumindest die Kirche sehen zu dürfen, doch er wird energisch und klopft auf die sonnenverblichenen Öffnungszeiten: 10.30-12.00 und 16.30-17.30. Ich schnaube genervt auf, sehe aber keinerlei Chance auf einen Blick ins Innere des Klosters und verabschiede mich verärgert.

Ich bemerke, dass ich anfange, die Spanier pauschal in eine grob arbeitsfaule Schublade zu stecken und ziehe die gedankliche Handbremse. Dennoch muss ich feststellen: Besucherfreundlichkeit sieht anders aus! Neben den lächerlichen Öffnungszeiten des Klosters prangte auf der Informationstafel die Aufschrift „Europäische Kulturinitiative“ in vielen Sprachen. Unbedingt, denke ich mir, gehören Kulturgüter wie dieses Kloster auch mit europäischen Mitteln erhalten und gefördert - aber dann muss man sie auch zugänglich machen!
Die Situation ärgert mich mehr und länger als es mir lieb ist, denn schließlich kann ich ja doch nichts daran ändern. Mehr als eine Stunde vergeht, bis ich wieder den Augenblick wahrnehmen und genießen kann. Beeindruckend, wie lang so eine Emotion nachwirkt, beobachte ich an mir selbst.
Die Route schlängelt sich erneut dem Flussverlauf entlang und steigt dann zur Ortschaft Aguiada hinauf, um dort auf die Hauptroute zu treffen. In einem der kleinen Weiler fällt mir auf, dass die Friedhöfe hier ein bisschen anders als gewohnt aussehen. Es gibt nicht nur herkömmliche Erdgräber sondern auch oberirdische Grabanlagen, in denen man Verstorbene beisetzt.

Mit der Entscheidung für die Wegvariante über Samos dauert mein Pilgertag um etwa einenhalb Stunden länger als geplant. Meine Bewegung und die Gedanken fließen rhythmisch dahin, ich verliere das Zeitgefühl weitgehend und achte nicht genau auf meine Umgebung - ein angenehmner Zustand: Panta rhei!

Nach über 30 Kilometern und über 1.000 Metern Abstieg erreiche ich Sarria. Die Kleinstadt mit etwa 12.000 Einwohnern scheint auf den ersten Eindruck keine besonderen Merkmale zu haben - außer eben, dass der Jakobsweg hier entlangführt. Für viele Menschen ist der Ort allerdings keine Zwischenstation des Camino, sondern der Startpunkt. Der Grund dafür liegt in den Regularien, nach denen man in Santiago die „Compostella“, die offizielle Pilgerurkunde, erhält. Die Ausstellung der vielleicht allzu touristischen Urkunde ist möglich, wenn man die letzten 100 Kilometer des Jakobsweges zu Fuß zurückgelegt, und dies mit täglich zwei Stempeln im Pilgerpass nachweisen kann. Die Strecke von Sarria nach Santiago zählt 114 Kilometer.

Ich beziehe ein renoviertes Zimmer im Hotel Alfonso IX und freue mich auf einen Tag Pause. Abends suche ich eine kleine Bar auf und bestelle ob der übrigen, nur trinkenden Gäste etwas misstrauisch einen Burger. Das Abendessen ist ausgesprochen gut und selbst der Espresso, der mir danach angeboten wird, überrascht mich positiv. Nach einem zweiten kleinen Bier sitze ich zufrieden in der Bar und werde von einem trinkfreudigen Gast auf ein kaffeehaltiges Stamperl - angeblich eine galicische Spezialität - eingeladen.
Jetzt ist aber Schluss, sage ich zu den Lustigen und gehe die wenigen Schritte zum Hotel zurück, um einer weiteren alkoholischen Eskalation des Abends aus dem Weg zu gehen.
Ich bin gespannt auf diese letzten Tage nach Santiago. Die Hotels und Pensionen sind angesichts des erwarteten großen Andrangs bereits reserviert und ich hoffe doch, endlich wieder sonnige Tage in Spanien erleben zu dürfen…?
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