In der Nacht quietschen und knacken die alten Holzbalken des feinen Landhauses. Ich werde ein paar Mal wach und vermute, dass die großen Temperaturunterschiede vielleicht der Grund für die Dehnungsgeräusche des Holzes sein könnten. Trotz allem habe ich ganz gut geschlafen und fühle mich bereit für den Tag.
Das Frühstück wird bei Kerzenlicht in einem ebenfalls sorgfältig renovierten Raum serviert. Die 9,9 Punkte der Booking Bewertung sind vielleicht gar ein bisschen zu idealistisch angesetzt, eine mittlere 9 würde ich allerdings auch vergeben.
Kurz nach 8 Uhr starte ich meine etwa 28 Kilometer lange Tagesetappe, die mich über die „Berge Leons“ hinweg führen sollte. Beim Frühstück habe ich im Wegführer gelesen, dass die hügelige Landschaft, in der ich mich befinde, Maragateria genannt wird. Die Menschen hier konnten aufgrund der Kargheit des Bodens nie von der Landwirtschaft allein leben und verdienten ihren Unterhalt oft als Fährleute. Dass der Boden zur Bewirtschaftung nicht viel hergibt, wurde mir bereits gestern, aber auch heute nochmals eindrücklich klar.

Nach ungefähr einer Stunde passiere ich das Dorf El Ganso und eine weitere Stunde später erreiche ich Rabanal del Camino. Dazwischen erhalte ich bei einem Straßenkünstler einen besonderen Stempel mit buntem Wachssigel in meinen Pilgerpass und vergesse vor lauter Ablenkung meine Kappe dort.
Meine Mama ruft mich anlässlich meines Geburtstags, präzise gegen 10:30 (meiner Geburtsstunde), an und wir führen ein längeres Gespräch, in dem sie mir unter anderem erzählt, wie ihre ersten Tage als junge Mutter mit mir damals verlaufen sind. Als ich später über das gute Gespräch nachdenke, bin ich sehr bewegt von dem, was sie mir gesagt hat.

Die Strecke führt stetig und zunehmend aufwärts, und unter der gleißenden Sonne wird mir bald sehr heiß. Bis Spanien hatte ich immer auf eine Kopfbedeckung verzichtet, hier bin ich froh, ein „Kapperl“ mitgenommen und zuvor nochmals dafür umgedreht zu haben.

Der teils verfallene Ort Foncebadon kommt nach etwa 200 anstrengenden Höhenmetern in Sicht und ich komme hier kurz mit einem koreanischen Pilger ins Gespräch. Die Sprachbarriere ist groß, aber wir können trotzdem miteinander lachen und nehmen jeweils ein Foto auf.

Als ich Foncebadon verlasse, fallen ein paar dicke Regentropfen - obwohl nur eine kleine Wolkenzelle über den höheren Bergen zu sehen ist. „Nicht aus Zucker“, denke ich mir und gehe weiter. Bevor ich bald den höchsten Punkt des Jakobsweges in Spanien mit 1.517 Metern Seehöhe erreiche, lohnt ein Blick zurück über die Hügel hin zur weiten Ebene.

Jetzt erreiche ich das „Cruz de Ferro“, und damit einen der symbolträchtigsten Punkte des Jakobsweges. Der geschichtsträchtige Ort besteht aus einem gewaltigen Steinhaufen, über dem sich ein 5 Meter hoher Eichenstamm erhebt, der an dessen Spitze ein Eisenkreuz trägt. Ich habe gestern Abend in der Vorbereitung auf den heutigen Tag bereits in meinem Büchlein gelesen, dass an dem Ort eine Tradition gepflegt wird, die sogar vorchristliche Ursprünge hat. Seit Jahrtausenden - ja wirklich - fügt jeder Pilger, der hier vorbeikommt, dem Steinhaufen einen weiteren kleinen Stein hinzu.

Ich habe schon heute Früh einen Stein aufgenommen und den Vormittag über den Berg hinaufgetragen, um mich mit der Symbolik, innere Lasten mit sich zu tragen und abzulegen, zu beschäftigen.

Die Steine, die hier liegen, sind mit Wünschen, Bitten und Namen beschriftet. Der Gedanke daran, welche unterschiedlichsten Lasten tausende Menschen vor mir hierher getragen und symbolisch abgelegt haben, erfasst und bewegt mich zutiefst.

Ich selbst habe auf dem Weg hier hinauf ebenfalls über meine Laster, meine Steine im Rucksack nachgedacht. Dabei habe ich die Parallele zum „Kyrie Eleison“ gefunden: In diesem, häufig rasch und scheinbar achtlos heruntergebeteten Teil christlicher Liturgien, geht es für mich darum, sich seiner eigenen Situation klar zu werden; sich zu überlegen, wo einem „der Kopf steht“; was gut und richtig oder vielleicht auch unangenehm und falsch gelaufen ist im eigenen Leben: eine hohe Kunst der Selbstreflexion, wenn man es ernst meint.
Die Ereignisse der letzten Tage haben mich zu einer intensiven Schau nach Innen bewegt, gar gezwungen. Daher passt der gedankliche Weg zu dem Steinhaufen samt Eisenkreuz ideal als nächste Station auf diesem langen Weg.
Auf den letzten Kilometern zum „Cruz de Ferro“ habe ich ein modernes Kirchenlied im Kopf, das mich ganz besonders bewegt:
Herr ich komme zu dir,
und ich steh vor dir so wie ich bin.
Alles was mich bewegt,
lege ich vor dich hin.
Text & Musik: Albert Frey
Über den höheren Bergen Leons braut sich ein mächtiges Gewitter zusammen. Ich bin zuversichtlich, dass die Hauptwindrichtung aus Nord-West die donnernde Gewitterzelle vorbeitragen wird und halte an diesem besonderen Platz Rast.

Als ich meinen Rucksack schultere und mich wieder auf den Weg mache, versammelt sich eine Gruppe Rennradfahrer nach einer gemeinsamen Ausfahrt (auf die ich jetzt auch Lust hätte) und gedenkt an dem spirituellen Ort einem Kollegen, der hier in der Nähe verunglückt ist. Die Geste verleiht dem Platz eine weitere, emotionale Dimension.

Die Schritte von hieran fühlen sich leicht an; als hätte ich tatsächlich Ballast abgelegt. Etwa zwei Kilometer weiter mache ich bei dieser charmanten Raststation halt und trinke etwas.

Die Route folgt eine Zeit lang noch einem Bergrücken auf ähnlicher Höhe und ich betrete eine Kuhweide, um eine ältere Angewohnheit wieder aufleben zu lassen: An jeder „Tränke“ das Gesicht zu erfrischen.

Der Ankündigung des Hausherren von gestern gebe ich Recht: Der Weg ist zwar steinig, aber die Aussicht auf die umliegenden, höheren Berge, die sogar noch Schneefelder zieren, ist wunderschön.

Hinter einer Hügelkante wird der Blick auf das Tal frei und ich kann bereits das morgige Etappenziel Ponferrada erkennen. Auf den letzten Metern ins Dorf El Acebo führe ich noch Geburtstagstelefonate.

Glücklich und zufrieden komme ich in El Acebo de San Miguel, einem kleinen Dorf mit schicken Steinhäusern an. Ich bin froh, dass ich mich wieder auf meinen Körper „verlassen“ kann und beziehe ein ordentliches Zimmer inmitten der Ortschaft.

Nachdem ich mich ausgeruht und das Finale der Giro-Etappe geschaut habe, mache ich noch einen Rundgang in dem netten Dorf. Ich gönne mir das eine oder andere Bier in der Spätnachmittagssonne und komme am Weg zum Zimmer an einem tollen Aussichtsplatz vorbei.

Hier liegt außerdem ein wirklich schöner Spielplatz und ein einladendes Kleinfußballfeld.

Auf einem kleinen Schreibtisch mit einem Fenster über das Dorf schreibe ich heute im Licht der lang scheinenden Sonne die Zeilen dieses Tagebucheintrags. Spätabends verlasse ich das Haus noch einmal, um eine einzelne Zigarette zu rauchen und den Sonnenuntergang zu sehen. Just in diesem Moment erreicht mich eine Sprachnachricht meines liebgewonnen Freundes Eduard, der mir mit seinen Freunden das heute einzige, wunderschöne und sogar mehrstimmige Geburtstagsständchen in deren ladinischer Heimatsprache singt und schickt.
So geht ein wunderbarer Tag zur Neige, an dessen Ende ich nicht darauf vergessen möchte, mich für die vielen persönlichen und herzlichen Geburtstagsglückwünsche, die mich auf unterschiedlichen Kanälen erreicht haben, zu bedanken. An einem Tag, der nicht mit Geburtstagstorte und „dem Üblichen“ gefüllt ist, entfalten die Grüße aus der Heimat eine besonders intensive Wirkung.
Ich danke Euch von Herzen.

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