Während meiner Pause in Leon habe ich die kommenden Etappen geplant und dabei entschieden, weitere 50 Kilometer bis Astorga zu überspringen und mit dem Zug zu fahren. Bereits auf den kleinen Übersichtskarten im Wegführer war zu erkennen, dass die Strecke erneut über viele Stunden einer stark befahrenen Straße entlangführen würde: Das will ich mir ersparen.
Im Gegensatz zu vielen anderen öffentlichen Belangen ist die Busverbindung vorbildlich organisiert. Auf die Minute genau fährt der modern ausgestattete Bus, in dem vorher explizit ein Sitzplatz zu buchen ist, in Leon ab.
Beim Blick aus dem Fenster zieht eine öde Steppe an mir vorbei und als ich genauer hinschaue, kann ich zwischen der Autobahn und der Schnellstraße die vor sich hin trottenden Pilger erkennen. Es sieht nach einem glühenden Höllentrip aus.

Kurz vor Mittag steige ich in der Stadt Astorga aus. Die Siedlung hatte bereits zur Römerzeit eine gewisse Bedeutung, war zur Zeit Napoleons mehrfach wild umkämpft und wurde später Bischofssitz, wovon der Bischofspalast von Gaudi zeugt. Als ich das Bauwerk sehe, muss ich an Disneyland denken.
Zum Wiedereinstieg in den Pilgerweg habe ich mir heute nur keine kurze Strecke vorgenommen, weshalb ich genug Zeit habe, um auch die Kathedrale von Astorga zu besichtigen.

Die Fassade und das Eingangsportal sind besonders beeindruckend. Mit dem erstandenen Eintrittsticket drückt mir ein junger Mann auch einen Audioguide in die Hand, den ich nach wenigen Minuten des Hörens wieder vom Ohr nehme. Wie so oft verliert sich die Erzählung in Details und Namen, die ich mir während eines kurzen Besuchs ohnehin nicht merken kann.

Das Museum umfasst die ehemaligen Klosterräume, den später umgebauten und wenig schicken Kreuzgang und zum Schluss die Kathedrale. Die gigantischen Säulen stehen wie riesige Beine in dem hohen Raum und lassen sogar das mittig eingebaute Chorgestühl klein aussehen. Die Kirche ist kahl und ich fühle mich hier nicht besonders wohl - außerdem ist mir im T-Shirt kalt.

Gestärkt durch die letzten Tage, aber auch mit etwas Misstrauen nehme ich es nun wieder mit dem Camino auf. Der Stein mit der gelben Muschel schickt mich in Richtung der Hügel aus der Stadt hinaus und zeigt an, dass es noch etwa 260 Kilometer nach Santiago sind.

An den langen Geraden durch karge Landschaft hat sich bisher also kaum etwas geändert, doch zumindest ist keine Straße mehr zu sehen. Der blühende Ginster, eine der wenigen Pflanzen, die die Bedingungen hier offenbar liebt, und die Berge im Hintergrund machen das Gehen auf der Schotterpiste erträglich.

Es ist windstill und die Luft beginnt durch die kräftige Sonneneinstrahlung zu flimmern. Mir wird richtig heiß und daher bin ich froh, dass heute nur knapp 10 Kilometer Wegstrecke zurückzulegen sind. Kurz vor dem Zielort liegt dieser schattenlose Rastplatz, auf dem jemand ein Steinlabyrinth gelegt hat.


Der Zielort Santa Catalina de Somoza ist ein kleines Dorf mit einheitlichem Ortsbild. Ich habe eine kleine Pension gebucht und freue mich bei meinem Eintreffen sehr über das liebevoll restaurierte Haus und ein wunderbares Zimmer. Von Unterkünften dieser Art dürfte es gerne mehr entlang des Camino geben!

Abends kehre ich einem der drei Restaurants - nennen wir es eher Bar - ein und verspeise eine Gemüsepaella. Während ich zahle, erhasche ich einen Blick in die Küche, wo der Koch mit einer Zigarette in der Hand gerade das Fleisch am Grill wendet. „Wir Spanier essen hier natürlich nicht…“, sagt mir der Hausherr meiner Pension kurz darauf, aber so sei das eben am Camino.
Ich gehe ein paar Schritte an dem schmucken Landhaus entlang und schaue dann über die Landschaft, die im flachen Licht so ruhig wirkt. Die Temperatur ist perfekt, ein letzter angenehmer Sonnenstrahl fällt auf mein Gesicht und auf einmal ist alles wieder in Ordnung. In diesem angenehmen Moment weiß ich wieder, warum ich hier bin: um Augenblicke wie diesen zu erleben und an Orte zu gelangen, zu denen ich sonst nie gefunden hätte.

„Die Strecke des Camino darf man nicht ändern“, sagt der Hausherr, „aber morgen hast du einen der schönsten Tage vor dir!“
Ich nehme ihn beim Wort, lege mich früh ins Bett und freue mich auf morgen.
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