In dem alten, sehr fein renovierten Haus schlafe ich äußerst tief und lang (die letzten zwei Stunden bei offenem Fenster und Regengeräusch - was gibt es Schöneres?). Schon gestern wurde mir klar, dass ein Vorankommen im Umfang einer ganzen Tagesetappe heute wohl eher schwierig werden würde. Nach intensivem Selbststudium während des ausgedehnten Frühstücks mache ich den frühen Nachmittag als niederschlagsärmste Tageszeit aus und breche kurz nach halb 1 Uhr Mittags auf.

Im Wallfahrtsort Flüeli-Ranft besuche ich noch die Karl-Borromäus-Kapelle, in deren Innenraum ich nochmals Schutz vor der Nässe suche.

Ich bleibe einige Minuten in dem Gotteshaus sitzen, komme zur Ruhe und zucke bei einem laut krachenden Donnern von einer nahen Gewitterzelle zusammen. Opa hat Recht: Wir wünschen uns immer wieder das, was wir gerade nicht haben können. Wieder werde ich mir meiner verletzlichen Menschlichkeit im Gegenüber der echten Naturgewalten bewusst. Die Lebensverhältnisse der Menschen von damals machen eine Ohnmacht und Gottesfurcht nachvollziehbar.

Ich verlasse die Kapelle und grüble weiter. Letztlich bin ich froh darüber, dass wir Menschen auf gewisse Dinge keinen Einfluss haben; ich denke auch, dass wir uns schlicht niemals einigen könnten.
Meinen lieben Freunden, den Schafen, hier mit einer besonders lustigen Frisur, ist das egal. Sie machen das Beste aus der Situation und drängen sich unter dem Dachvorsprung zusammen.

Einen ähnlichen Rat - ‚make the most out of it‘ - hat mir mein Freund Jakob gestern gegeben und ich nehme den Gedanken auf den Weg der Visionen, der von dem Künstler Andre Bucher geschaffen wurde, mit.

Als wollte Mutter Erde zustimmen, hört es zu regnen auf, als ich den Wald verlasse. Jetzt erinnere ich mich an einen Spruch, den ich von meinem Papa kenne: „Das Glück des Tüchtigen!“ Ich muss grinsen und freue mich jetzt schon, aus dem Tag etwas gemacht zu haben.

Durch den Seeblick, das satte Grün und die feucht-frische Luft, die ziehenden Nebelschwaden, das aufblitzende Blau am Himmel und das allgemeine Aufhellen entsteht eine ganz besondere, fast magische Stimmung, die mich ganz in ihren Bann zieht.


Nach etwa einer Stunde erreiche ich das Tal, die Ortschaft Sachseln und die zugehörige Kirche St. Theodul. Anbei findet sich eine Kapelle mit der Grabstätte des Hl. Bruder Klaus. Ich betrete das Innere der Kirche und bin erneut von der kontrastreichen Architektur beeindruckt.

Die Regenpause möchte ich nutzen wie ein Geschenk und gehe gleich zum Ufer des Sarnersees weiter. Was schon in den Wetternachrichten kaum zu überlesen war wird hier deutlich: Die Unwetter und starken Regenfälle der letzten Tage haben haben die Böden längst gesättigt und die Wasserspiegel der Flüsse und Seen dramatisch steigen lassen. Wo die Uferpromenade vollständig unter Wasser steht empfiehlt mir eine einheimische Pensionistin in Gummistiefeln, für einige Meter über den Gleiskörper zu gehen. „Der Zug ist eh gerade gefahren, jetzt hat es 15 Minuten Pause!“, meint sie und lacht.

Vor dem Strandbad staune ich nicht schlecht: Hier hat jemand Schienen für eine Modellbahn um einen Spielplatz gelegt. In der „Remise“ steht die Türe weit offen und tatsächlich schraubt ein älterer Herr an einer Lokomotive - ganz offensichtlich sein herzhaftes Hobby.

Ein automatisierter Schritt trägt mich die gesamte Seepromenade entlang, auch an bootstauglichen Grillplätzen vorbei.

Nachdem ich das Naturschutzgebiet am südlichen Seeufer durchschritten habe, erreiche ich die Ortschaft Giswil, die als Streusiedlung beschrieben wird. Tatsächlich fehlt hier ein Ortskern oder ein Hauptplatz und ich orientiere mich an dem Kirchturm. In der Nähe des stark regulierten Flusslaufs der Laui treffe ich auf eine Frau, die mit ihren Lamas spazieren geht. Die Werbung auf ihrer Tragtasche verrät, dass sie Lamatrekking anbietet. Ich kann mir gut vorstellen, dass die lustig dreinschauenden Tiere bei einer Wanderung kurzweilige Zeitgenossen sind.

Die Ortskirche St. Laurentius liegt einige Meter erhaben über dem Tal und bietet unter einem Vordach einen herrschaftlichen Ausblick.

Ein paar Schlücke Wasser und Stücke Schoki später bewege ich mich auf die Geländestufe im Talschluss zu. Zuversichtlich habe ich für die 200 Höhenmeter die Regenjacke bereits abgelegt.

Kurz und schmerzlos unterwandere ich die Schnellstraße und passiere eine große Baustelle, wo ein Tunnel anstelle der engen Kurven entsteht. Bereits in Giswil habe ich mich gefragt, wie die Züge der „schweizer Zentralbahn“ die steile Passage bewältigen. Als es kurz vor dem Ziel wieder zu regnen beginnt kreuze ich die Bahngleise und bemerke, dass es sich um einen Zahnradabschnitt handelt. Mir war nicht klar, dass es Züge gibt, die das Zahnradwerk nur zeitweise zuschalten können.
Ich checke direkt am Ufer des Lugernersees in das Hotel Kaiserstuhl ein, das mich mit einem urigen, heute aber perfekt heimeligen Innenraum empfängt.

An Schönwettertagen hat man von der Terrasse aus einen Blick ins Hochgebirge, mit den Gipfeln des Wildgärst und Schwarzhorns, von denen man heute nur die Füße unter der Wolkendecke erkennen kann. Der gleichen Achse folgend liegen dahinter das bekannte Grindelwald und die Legenden Eiger, Mönch und Jungfrau.

Vor dem Kaminfeuer schreibe ich diese Zeilen, prüfe die Wettervorhersage und plane den morgigen Tag. Es ist sehr schön, unterwegs zu sein!
Heute bin ich dir dankbar dafür.....
In all diesen bereits 35 Teilstrecken ( Etappen) fällt mir auf lieber Simon, dass du an keinen der vielen Marterl, Kapellen, Ortskapellen, Gotteshäusern, Stiftskirchen, Basilika vorbei gehst. Einer meiner Grundsätze, wenn ich in neuen Gegenden komme, ist ebenso diesen Gebäuden einen Besuch abzustatten. Da fällt mir die Aussage von Gustav Dr. Schörghofer im Rahmen einer Führung in der Jesuitenkirche auch wieder ein: Wenn du einen Kirchenraum betrittst, mache einen Rundgang. so mit dem Schwerpunkt: "Stell dich hierhin oder hierhin". " Ich gehe umher zwar sehr langsam, bleib aber nicht stehen". So habe ich erfahren, dass ich als Betrachter mir den Raum Anvertraut habe, ihm Zeit zu schenken. Diese Kirchenräume insgesamt verändern im Lauf de…